Es ist wieder Festspielzeit in Bayreuth - nach zwei Jahren ist die Wagner-Fan-Gemeinde sichtbar hungrig nach Kunst in Präsenz. Nicht zu übersehen die hohe Anzahl schwuler Männer, häufig Paare, aller Altersklassen. Warum haben Richard Wagner und sein Werk so eine Anziehungskraft auf uns schwule Männer, obwohl doch sein ausgeprägter Antisemitismus inzwischen nicht mehr zu leugnen ist?
Vielleicht ist es die Musik: Wagners Kompositionen waren für seine Zeit sehr gewagt und avantgardistisch: Er löst sich von herkömmlichen Regeln der Harmonie, wagt Atonalität. Manche sehen in ihm auch einen Vorläufer der Programm-Musik: Personen und wichtige Gegenstände wie die Götterburg Walhall oder das Schwert Nothung erhalten eindeutig identifizierbare Klangmotive, die sich immer wiederholen und mitunter auch hinter dem gesungenen Text Querverweise herstellen. Mich auf jeden Fall spricht diese Non-Konformität an, reizt mich immer wieder, auf Entdeckungsreise in Wagners Musik zu gehen.
Vielleicht sind es aber auch die Charaktere, die in Wagners Werken begegnen. Die Hauptpersonen sind ganz oft gebrochene oder an sich und der Welt zerbrechende Personen: Elsa zerstört das Glück ihrer Liebe, indem sie Lohengrin dazu drängt, sein Pseudonym zu lüften und seinen wahren Namen zu verraten. Wotan, der Göttervater, zerbricht im Ring des Nibelungen an den Regeln, nach denen er die Welt selbst durch Verträge gestaltet hat - Verträge, die er freilich selbst immer wieder versucht hat, auf listige Weise zu umgehen.
Regeln, Normen und Konventionen - wir brauchen sie, um verlässlich miteinander zu leben. Aber viele von uns Queers haben in ihrem Leben die Erfahrung gemacht, dass diese Konventionen nicht-(hetero-)normative Formen des Zusammenlebens und der Liebe verhindern.
Im Ring des Nibelungen führt Wagner diesen Widerstreit für mich in seiner extremsten Form vor: Eine zentrale Rolle spielt die Liebesbeziehung zwischen Siegmund und Sieglinde. Beide sind Zwillingsgeschwister, von Wotan selbst gezeugt, als er sich wieder einmal auf der Erde herumtrieb (und damit selbst seiner Gattin Fricka fremdging). Die beiden wissen jedoch nichts von ihrer Verwandschaft, da Sieglinde als kleines Kind schon entführt und später mit Hunding zwangsverheiratet wurde. Glücklich wurde sie mit ihm nie.
Wotan ist hocherfreut über diese Beziehung seiner zwei Kinder - nicht ganz uneigennützig freilich, hofft er doch, dass daraus ein Held geboren wird, der ihn vom Fluch des Rings des Nibelungen befreien kann. Fricka aber sieht das hohe Gut der Ehe verletzt und drängt Wotan, als oberster Hüter der Verträge diesen Ehebruch zu rächen. In diesen Konventionen gebunden, lässt Wotan es schließlich zu, dass Hunding seinen Widersacher Siegmund ermordet. Brünhilde, Wotans Tochter, die er mit der Erdgöttin Erda gezeugt hat und die als Walküre Siegmund bis zum Schluss gegen Hunding beschützt hat, verbannt er aus der Lebenswelt der Götter.
Auf ebendiese verbannte Brünhilde stößt einige Zeit später Siegfried, den Sieglinde tatsächlich als Kind aus der Beziehung mit Siegmund geboren hat. Im "Liebeswerben" Siegfrieds um Brünhilde kommen bei Wagner dann sehr konventionelle Vorstellungen zum Tragen, die aus heutiger Sicht - und zumal unter Gender-Gesichtspunkten - nur schwer erträglich sind: Als Götterbotin wusste Brünhilde um die Wahrheiten der Welt, sie kämpfte für die Helden, war unabhängig von allen bis auf Wotan. All dies müsse sie aufgeben, hatte schon Wotan ihr bei der Verbannung angedroht, wenn sie fortan "einem Mann gehorcht". Entsprechend verzweifelt ihr letztes Aufbäumen: "O Siegfried! Herrlicher! (...) Lasse von mir! Nahe mir nicht mit der wütenden Nähe! Zwinge mich nicht mit dem brechenden Zwang!" Schlussendlich gibt Brünhilde sich dann doch Siegfrieds Liebe hin - wissend, dass dies der Anfang vom Ende all dessen ist, was sie bisher gewesen ist.
Liebe, Zwang und Missbrauch sind Themen, die Valentin Schwarz in seiner umstrittenen Bayreuther Neuinszenierung des Rings besonders hervorhebt: Das Rheingold, aus dem der Nibelunge Alberich den Ring schmiedet, sind hier nämlich unschuldig spielende Kinder, aus deren Reihe eines von Alberich entführt wird. Die Machtspiele der Erwachsenen, so lese ich diese Inszenierung, rauben den Kindern ihre Unschuld und ihr Lebensrecht. Eine sehr provokante und bedrückende Botschaft angesichts der Diskussion um Missbrauch in Kirchen und Internaten...
Bei Wagner und auch bei Valentin Schwarz endet das ganze Drama im Untergang: Auch die vermeintlich perfekte Liebesbeziehung zwischen dem Weltenretter Siegfried und Brünhilde wird durch List und Betrug zerstört, Brünhilde nimmt an Siegfried tödliche Rache und folgt dem immer noch Geliebten dann selbst in den Tod. Wotan, dem die Weltläufte endgültig entglitten scheinen, legt selbst das Feuer an die Götterburg Walhall, für deren Bau er damals bereit war, seine Schwägerin an die Baumeister zu verkaufen. Der fluchbeladene Ring versinkt wieder im Rhein, doch ob damit ein (friedvoller) Neubeginn möglich ist, bleibt offen. Die Helden sind jedenfalls alle tot.
Ring in Bayreuth, das heißt eine Woche mit diesem monumentalen Werk zu leben. Ich musste dabei immer wieder an den Wochenspruch der letzten Woche (8. Sonntag nach Trinitatis) denken: "Wandelt als Kinder des Lichts, die Frucht des Lichts ist lauter Güte und Gerechtigkeit und Wahrheit." (Eph 5,8b.9) Wotan und die Seinen sind bei Wagner "Licht-Alben", doch diesem biblischen Maßstab werden sie ganz und gar nicht gerecht: Mit der Wahrheit nehmen sie es nicht immer so genau, List und Tücke sollen den eigenen Vorteil sichern. Güte würde Wotan gegenüber Sieglinde und Siegmund gerne walten lassen, aber auch diese ist nicht bedingungslos, sondern sieht den möglichen eigenen Vorteil. Gerechtigkeit aber wird immer wieder zum rächenden, tödlichen Moment, wenn vorherige Fehler gesühnt werden. Wie anders ist doch diese biblische Vorstellung vom Wandel im Licht: Güte ist die große Klammer um diese Lebensweise - gespeist von der Gewissheit, von Gott bedingungslos geliebt zu sein. Diese Güte ist daher selbst bedingungslos - und öffnet damit einen Raum, in dem das Miteinander von Wahrheit (oder zumindest Aufrichtigkeit) und Gerechtigkeit geprägt ist. Wie anders wären die vielen dramatischen Beziehungen in Wagners Werken verlaufen, wenn die Partner:innen von Anfang an die Wahrheit über sich und den oder die andere gewusst hätten! Alles Verstecken und Sich-Verstellen wäre sinnlos gewesen, die Suche nach dem eigenen Vorteil unnötig. In Kenntnis der eigenen Geschichte und der Geschichte der und des anderen hätten sie versuchen können, sich gegenseitig gerecht zu werden. Das freilich geht nur in einem Schutzraum, der von Güte und auch Verzeihen geprägt ist, erleuchtet durch das Licht, das uns seit dem Ostersonntag leuchtet.
"Wandelt als Kinder des Lichts, die Frucht des Lichts ist lauter Güte und Gerechtigkeit und Wahrheit." - das ist dann natürlich nicht nur ein Impuls, um Wagnersche Dramen über das Ende hinaus zu denken, sondern eine gute Regel, um gelingendes Miteinander heute zu leben.