„Less me, more we“ – „weniger ich, mehr wir“ war das Motto des Münchner CSD 2022, der am vergangenen Samstag (16. Juli 2022) mit der größten Politparade, die es in München je gegeben hat, seinen Höhepunkt gefunden hat. Laut Polizeiangaben waren rund 400.000 Menschen auf den Beinen, allein mehr als 25.000 Personen sollen sich aktiv am Umzug beteiligt haben. Dieser ist ein Moment, an dem seit vielen Jahren das „wir“ des diesjährigen Mottos sichtbar wird: Die Münchner Parade wird traditionell von den vielen queeren Vereinen und Gruppen der Stadt geprägt. Und nicht nur deren jeweilige Mitglieder sind stets aktiv dazu eingeladen, sich in den Zug einzureihen!
Der Queergottesdienst München und die lesbisch-schwulen Gottesdienstgemeinschaften präsentierten sich auch in diesem Jahr wieder mit einem eigenen Wagen. Der ökumenische Gottesdienst vor der Politparade ist seit Jahren fester Bestandteil des Münchner CSD-Wir. Queere Christ:innen sind seit Jahren deutlich sichtbar beim Münchner CSD – ein Coming Out in umgekehrter Richtung: Auch in diesem Jahr wieder mussten sich viele die Frage gefallen lassen, wie das denn gehe, offen queer und trotzdem kirchlich aktiv zu sein. Negative eigene Erfahrungen mit den Kirchen, Vorbehalte aufgrund eines konservativen Kirchenbildes, aber auch pauschale Kirchenkritik führen nach wie vor dazu, dass manche in der queeren Community uns queeren Christ:innen mit Skepsis begegnen.
Gut, dass der Queergottesdienst mit seinem Infostand da seit Jahren ein anderes Bild von Kirche präsentiert. Offen erkennbar zeigte sich in diesem Jahr auch Wolfgang F. Rothe. Der römisch-katholischer Priester aus München-Perlach, der im letzten Jahr offen Segnungsfeiern für gleichgeschlechtliche Paare durchgeführt hat, war ganz bewusst mit Colarhemd und Priesterkragen zur Parade gekommen. Er wolle damit ein Zeichen für eine bunte, weltoffene Kirche setzen, sagte der Pfarrer im Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung.
Matthias Drobinski, langjähriger Kirchenredakteur derselben Zeitung, meint sogar, dass bundesweit so viele römisch-katholische Christ:innen wie noch nie offen sichtbar bei den Pride-Veranstaltungen mitgemacht haben. Dies sei auch notwendig, betont er in einem Kommentar auf katholisch.de: Notwendig bedeute, eine Not zu wenden. Er sieht diese Präsenz römisch-katholischer Christ:innen als doppelt Not-wendend: Ein erster Schritt um mit der Doppelmoral der römisch-katholischen Kirche in Bezug auf Sexualität ein Ende zu machen, und um queeren Menschen eine spirituelle Heimat zu geben.
Politisch im Mittelpunkt standen zwei Themen beim Münchner CSD: Zum einen die Solidarität mit der Ukraine, mit der dortigen queeren Community und mit Queers, die vor dem Krieg nach Deutschland geflüchtet sind. Zum anderen die Forderung nach einem Bayerischen Aktionsplan LGBTIQ* für Gleichstellung und gegen Antidiskriminierung.
München hat eine intensive Beziehung zur Ukraine: Die Städtepartnerschaft mit Kiew ist von einem regen Austausch zwischen den beiden Städten geprägt. Auch die queeren Communities sind seit Jahren eng miteinander verbunden, Delegationen aus München haben am Pride in Kiew teilgenommen und umgekehrt. Kein Wunder also, dass dieses Jahr nicht die Dikes on Bikes, sondern eine Gruppe aus der Partnerstadt die Polit-Parade anführten.
Aktionspläne für Gleichstellung von Queers gibt es bereits in vielen Bundesländern – jedoch nicht in Bayern. So bunt und vielbesucht der Münchener CSD in diesem Jahr gewesen sein mag: Im Alltag erleben Queers nach wie vor Diskriminierung. Mit dem Aktionsplan soll die Staatsregierung sich verpflichten, Sensibilität für queere Belange in allen Bereichen des öffentlichen Lebens zu fördern und Gleichstellung und Teilhabe von Queers zu ermöglichen. Menschen mit Wohnsitz in Bayern können die Petition unter diesem Link zeichnen.
Wer glaubt, dass der Einfluss der Kirchen oder die christliche Prägung solche Aktionspläne behindere, wird übrigens durch eine eben erschienene Studie eines Besseren belehrt, die ausgerechnet das konservative christliche Wochenmagazin idea in Auftrag gegeben hat: Das Markt- und Sozialforschungsinstitut INSA-Consulere hat Menschen, die sich zum christlichen Glauben bekennen, nach ihrer Haltung zum geplanten Selbstbestimmungsgesetz für Trans- und Intersexuelle gefragt (Link zum ausführlichen Bericht). Dabei zeigte sich zunächst, dass die Ablehnung bei allen Konfessionsgruppen niedriger ist als in der Gesamtbevölkerung. Insgesamt lehnen 43 Prozent der Befragten die Neuregelung ab. Bei Mitgliedern der evangelischen Landeskirchen sind es dagegen nur 38 Prozent, die das neue Gesetz ablehnen. Von den Katholik:innen sind der Umfrage zufolge 39 Prozent dagegen, bei den Freikirchler:innen 37 Prozent.
Auch die Zustimmungsrate ist über alle christlichen Konfessionen hinweg höher als in der Gesamtbevölkerung. So sind es bei landeskirchlichen Protestant:innen 34 Prozent, bei Katholik:innen 36 Prozent und bei Freikirchler:innen 35 Prozent. Somit liegen alle drei christlichen Befragten-Gruppen über dem Durchschnitt, denn von allen Befragten sind nur 33 Prozent für das Selbstbestimmungsgesetz. Less me, more we – vielleicht ist das ja doch eines der grundlegenden Kennzeichen unseres christlichen Glaubens!