Kinder brauchen Märchen, so der Titel eines weltbekannten Buches des Psychoanalytikers Bruno Bettelheim. Der Kinderpsychologe vertritt darin die These, dass Märchen von zentralen (früh-) kindlichen Entwicklungskonflikten handeln und Identifikationsfiguren bieten anhand derer Kinder sehen können, wie andere diese Konflikte erfolgreich meistern, was die Kinder wiederum in ihrer eigenen Entwicklung unterstützt. Ein Beispiel hierfür ist die Geschichte von Hänsel und Gretel, welche sich mit der Ablösung von der mütterlichen Bezugsperson sowie den daraus resultierenden Ängsten befasst. Am Ende schaffen es die Geschwister, sich von der bedrohlich überversorgenden Mutter, symbolisiert durch die Figur der Hexe, die die Autonomie der Beiden bedroht, zu befreien und gewinnen damit eine neue, ihrem Alter angemessenere Art der Unabhängigkeit. Märchen handeln also von viel mehr als es uns bei einem oberflächlichen Blick auf die Erzählungen von jungen Adeligen, Burgen, Drachen und anderen phantastischen Wesen zunächst scheinen mag. Die vordergründige Realität der Protagonist:innen ist weit von der unseren entfernt, doch was die Figuren in den Erzählungen an inter- und intrapersonellen Konflikten durchleben ist etwas, das wir alle aus unseren eigenen Leben kennen. Wahrscheinlich macht gerade diese Eigenschaft die zeitlose Beliebtheit der Stoffe aus. Doch obwohl die Geschichten auf der latenten Ebene nichts an ihrer Aktualität verloren haben, sind Märchen selbstverständlich immer auch ein Produkt ihrer Entstehungszeit. So wurde etwa die berühmte Sammlung von Kinder- und Hausmärchen der Gebrüder Grimm im 19. Jahrhundert veröffentlicht und die dort zusammengetragenen Erzählungen sind teilweise noch viel älteren Ursprungs. Eine der zentralen und lebenslang nie wirklich zu bewältigenden, weil unauflöslich konflikthaften Entwicklungsaufgaben ist das Zusammenspiel von Identität, Geschlechtern, Liebe und Sexualitäten. Bedauerlicher Weise widmet sich der geläufige Kanon klassischer Märchen diesen Themen nur in unzureichender Weise. Allzu oft werden Stereotype heteronormativer Geschlechtlichkeit reproduziert. Wie viele Geschichten über Prinzessinnen, die in Manier einer Heldin ihren Prinzen retten, kennen wir? Und auch einen Prinzen, der einen anderen Königssohn heiratet, suchen wir bei den Gebrüdern Grimm vergeblich.
Aus diesem Grund ist es höchst erfreulich, dass Boldizsár M. Nagy mit seinem Buch Märchenland für alle hier nun zu einer Normalisierung der Verhältnisse beiträgt. Das Werk umfasst 17 Geschichten unterschiedlicher Autor:innen, die, wie es im Klappentext heißt "verschiedenste Rollenbilder in die Kinderzimmer [holen wollen]. Damit jeder Mensch sich identifizieren kann, mit wem er möchte". Damit werden in einer bislang einmaligen Weise allen Kindern Identifikationsangebote gemacht und bisher unbeleuchtete Entwicklungskonflikte thematisiert.
In dem Buch finden wir unter anderem die Geschichte von Goldlaub. Dieses Märchen ist an die Erzählung von Schneewittchen angelehnt. Goldlaub ist das Wunschkind ihrer königlichen Mutter. Dass das Mädchen in seinem Verhalten nicht den gängigen Geschlechtsstereotypen entspricht, ist der Königin gleich, sie liebt ihr Kind so wie es ist. Der König hingegen, der nach dem frühen Tod der Mutter allein für die Tochter verantwortlich ist, ist zu dieser Liebe nicht fähig. Er ereifert sich darüber, dass Goldlaub sich "wie ein Junge kleidete, Tag und Nacht draußen umherstrolchte und verschmutzt heimkehrte". Er sperrt sie daher in ihr Zimmer ein, zwingt sie zum Tragen von Kleidern, verordnet ihr exzesshaften Tanzunterricht und lässt das weinende Mädchen, wenn sie ihm zu schmutzig erscheint, vom Personal stundenlang sauber schrubben. Schließlich gibt er sogar den Befehl, sie zu töten. Aber Goldlaub entkommt und lebt fortan bei den sieben Weberinnen, die das Mädchen bei sich aufnehmen. Doch der Zorn des Königs darüber, dass die Tochter statt tot zu sein nun in Sicherheit lebt und dort "hackt und schnitzt und bohrt" und "glücklicher als je zuvor" ist, kennt keine Grenzen. Immer wieder versucht er das eigene Kind umzubringen. Nur durch die Hilfe der sieben Weberinnen und der Liebe eines Prinzen kann sie überleben und letztlich ihr Glück finden.
In der auf die griechische Mythologie Rekurs nehmenden Erzählung vom rubinroten Vogel kommt es zu einer dramatischen Begegnung zwischen Kainis und dem Herrscher des Meeres Poseidon. Kainis offenbart darin den großen Wunsch: "Mach, dass ich keine Frau mehr bin! Verwandle mich in einen Mann! […] Ein starker Jüngling will ich werden!" Poseidon gibt dem nach und aus Kainis wird Kaineus, ein unbesiegbarer Krieger und Held der Argonauten. Kaineus lebt ein erfülltes Leben, bis es zu einem Kampf mit den Kentauren kommt. Diese können nicht verkraften, von einem Mann, "der als Mädchen, als Kainis geboren wurde", besiegt zu werden. In seiner Geschlechtsidentität gekränkt, spricht einer der Kentauren dem Kaineus ab, ein Mann zu sein und das Recht zu haben, eine Waffe zu tragen. Weil sie seinen Anblick nicht mehr ertragen können, begraben ihn die Feinde unter einem Berg aus Steinen und Bäumen. Am Ende gelingt es ihnen zwar den Körper zu zerstören, doch Kaineus Seele steigt als rubinroter Vogel zum Himmel empor.
Nicht jedes der Märchen ist so gewaltgeladen. Ganz am Ende des Buches steht etwa die in Reimform geschriebene Geschichte Wie der Prinz die Ehe schloss. Darin will eine Königin das Zepter an ihren Sohn weitergeben. Bevor dies geschieht soll er jedoch die Ehe eingehen. Zu diesem Zweck werben die intelligentesten, vielseitig talentiertesten und schönsten Frauen aus der ganzen Welt um ihn. Aber keine der Bewerberinnen kann seinen Heiratswillen mehren. Bis schließlich eine Prinzessin samt ihres prinzlichen Bruders auftaucht. "'Ach, mir steht das Herz in Flammen, ich bin völlig aus dem Lot! Nie empfand ich solche Liebe!', rief der Prinz und wurde rot", heißt es daraufhin im Buch. Wenig später kommt es zur Märchenhochzeit, in der die Eheschließung der beiden Prinzen frenetisch gefeiert wird.
In den anderen Geschichten geht es selbstverständlich auch um die Liebe zwischen Frauen, sowie Asexualtität, Intersexualität und noch viele andere Themen mehr. Märchenland für alle ist ein Werk, das Kinder dazu ermutigen will, so zu sein, wie Gott sie geschaffen hat. Im Märchen von Goldlaub können junge Menschen erfahren, dass es - so sehr wir auch von anderen diskriminiert werden, weil wir nicht ihrem Bild von Geschlechtlichkeit entsprechen - immer auch Personen gibt, die zu uns stehen, die uns lieben, annehmen, unterstützen, mit denen wir uns solidarisch zusammentun können und dass nach einer Zeit des Leids auch das Glück zu finden ist. Letzteres erlebt ja auch der junge Prinz in der anderen Geschichte. Wie viele andere Jungen in unserer Gesellschaft soll er mit einer Frau verheiratet werden, kann dann aber schließlich nur in der Liebe zu einem Mann seine Erfüllung finden. Und auch wenn das Ende der Erzählung vom rubinroten Vogel als ein tragisches gelesen werden mag, so geht doch von ihm die Botschaft aus, dass egal wer uns die Würde rauben will, unsere Seele unzerstörbar ist und es eine Hoffnung gibt, die über das irdische Leben hinausgeht – eine zutiefst christliche Botschaft!
Waren Märchen bislang oft Teil des Problems, weil sie die Mär einer für jeden Menschen geltenden Cis-Geschlechtlichkeit tradierten, die sich in vermeintlich damit einhergehenden geschlechtsstereotypkonformen Verhalten und Heterosexualität ausdrückt, setzt Märchenland für alle nun einen wichtigen Kontrapunkt. Dass das Buch in seinem Ursprungsland Ungarn nicht offen zum Verkauf ausgelegt werden darf, weil es dort verboten ist, Kindern und Jugendlichen Informationen über die Vielfalt von Liebe, Geschlechtern und Sexualitäten zugänglich zu machen, spricht Bände. Es offenbart, dass der rechtspopulistischen Regierung des Landes das Wohl seiner Bevölkerung egal ist. Mit Gewalt sollen junge Menschen ganz wie in den Märchen, die das Buch erzählt, zu einem Verhalten gedrängt werden, das ihnen nicht entspricht. Das ist entwürdigend und gefährlich. Es zeigt umso mehr, dass wir dringend Geschichten, wie sie in diesem Werk vereint sind, brauchen. Und das nicht nur in Ungarn, sondern auch in Deutschland, wie jüngst wieder neueste Berichte über eklatante Mobbingvorfälle an Schulen deutlich machen.
Der Entertainer Riccardo Simonetti wird auf der Rückseite des Buches folgendermaßen zitiert: "Ein Märchen zu lesen, in dem sich zwei Prinzen verlieben, hätte mir als Kind viel Mut zugesprochen". Dieser Aussage können sicher viele zustimmen. Mit Blick auf die immer noch deutlich erhöhte Suizidrate von jungen Menschen, die nicht der heteronormativen Zwangsschablone entsprechen, gehe ich soweit zu sagen, dass diese Märchen nicht nur unterhalten, trösten und ermutigen, sondern sogar Leben retten können. In diesem Sinne schließe ich mich Bruno Bettelheim an und sage: Ja, Kinder brauchen Märchen, und zwar alle Kinder!
Leseempfehlungen:
Und für alle die noch weiter schmökern möchten:
Haack, Daniel/ Lewis, Stevie (2021): Prinz & Ritter. Windy Verlag, 32 S..