Was der Text im Ersten Buch Mose 19, 1-13 zunächst einmal erzählt: Zwei Engel besuchten Lot in der Stadt Sodom. Lot lud die beiden Fremden ein, gab ihnen zu essen und zu trinken und gewährte ihnen Gastfreundschaft und Unterkunft. Alle Männer von Sodom, Jung und Alt, hatten gehört, dass zwei Fremde bei Lot eingekehrt waren. Sie kamen zum Haus und kreisten es ein. Sie schrien Lot an, dass er die beiden Fremden herausgeben sollte, damit sie sie vergewaltigen konnten.
Lot versuchte die Männer zu beschwichtigen und bot ihnen seine zwei Töchter an, die beide noch Jungfrau waren. Er wollte das Gastrecht gegenüber den Fremden schützen und war dafür bereit, dem wilden Mob seine beiden Töchter auszuliefern. Die Fremden zählten in seiner patriarchalen Logik mehr als die Frauen. Der Mob beruhigte sich aber nicht und forderte weiterhin die Herausgabe der beiden Fremden. Da traten die beiden aus der Tür und schlugen die Männer mit Blindheit und vertrieben sie. Anschließend fragten sie nach den Familienangehörigen Lots. Denn alle anderen wollten sie zur Strafe vernichten. Soweit zum Text.
Zur Rekapitulation: Alle Männer aus der Stadt Sodom hatten sich vor Lots Wohnung eingefunden. Ist es möglich, dass jeder in Sodom lebende Mann schwul war? Ganz sicher nicht. Eine Reihe von Studien schätzt, dass der Prozentsatz von gleichgeschlechtlich Liebenden in den meisten Kulturen zwischen drei und zehn Prozent der Bevölkerung beträgt. Mit dieser Statistik als Leitfaden könnten nicht mehr als zehn Prozent der Männer aus Sodom homosexuell gewesen sein. Oder anders ausgedrückt: 90 bis 97 Prozent der Männer an Lots Tür waren heterosexuell. Warum wurde die „Sünde Sodoms“ dann ausschließlich auf homosexuelle Männer bezogen? Voreingenommenheit und Vorurteile haben diese Interpretation ermöglicht und durch die Jahrhunderte ins kollektive Gedächtnis eingegraben.
Im biblischen Buch des Propheten Ezechiel 16, 49-50 wurde festgehalten, warum G:ttes Zorn gegen Sodom entfacht wurde:
„Dies war die Sünde von Sodom. Sie waren stolz, hatten zu viel zu essen und waren wohlhabend. Sie halfen aber nicht den Armen und Bedürftigen. Sie waren hochmütig und taten abscheuliche Dinge vor mir. Deshalb habe ich sie entfernt, als ich sie sah.“
Der Prophet Ezechiel betonte klar, dass ein Übermaß an Stolz und ein Überfluss an Besitz und Reichtum zum Untergang von Sodom führte. Denn die Sodomiter wollten nichts mit den Armen und Bedürftigen teilen. Und sie übten abscheuliche Gewalt gegen Fremde, Frauen und Schutzbedürftige aus. Es ging um die fundamentale Verletzung des Gastrechts, um angedrohte sexualisierte Gewalt gegen Fremde und gegen die Töchter von Lot. Worum es in der Geschichten nicht ging: um Homosexualität!
Lot verteidigte zwar das Gastrecht gegenüber den Fremden. Aber er hätte seine Töchter dem wilden Mob geopfert, um sie ruhig zu stellen. Er hätte sexualisierte Gewalt gegen seine Töchter billigend in Kauf genommen. Das ist der eigentliche Skandal der Geschichte.
Das ganze Setting zeigt ein fremden- und frauenfeindliches Umfeld in strikt patriarchalen und heteronormativen Machtverhältnissen. Sexualisierte Gewalt gegen Fremde, Frauen und Schutzbedürftige gehörte im männerdominanten Alltag der Städte Sodom und Gomorrha offensichtlich dazu.
Aus queerer Perspektive wird deutlich, dass queere Personen in dieser Stadt genauso wenig willkommen gewesen wären wie Fremde und Schutzbedürftige. Die Geschichte wurde über Jahrhunderte missbraucht, um schwule Männer zu verdammen, obwohl es um sie überhaupt nicht ging. Zudem zeigt die Geschichte ein fremden-, frauen- und queerfeindliches Umfeld, von dem sich Schutzbedürftige auch heute fernhalten müssten. Die „Sünde Sodoms“ ist also mitnichten die der Homosexualität, sondern dass das Gastrecht gebrochen und sexualisierte Gewalt angedroht und (ohne den Schutz der Engel) sicher auch durchgeführt wurden.
Eine weitere Auslegung besagt, dass die Männer Sodoms ahnten, dass es sich bei den Fremden um Götterboten handelte. Durch erzwungene Sexualität mit ihnen wollten sie sich ihrer bemächtigen und dadurch göttliche Macht, Autorität und Einfluss erhalten. Die körperliche Machtaneignung durch sexualisierte Gewalt an Frauen und Kindern war und ist bis heute ein gefürchtetes Motiv in der militärischen Kriegsführung. Es geht um religiös und nationalistisch überhöhte Narrative von Strafe gegenüber dem Feind und um Einfluss und Machtgewinn.
Die Geschichte von Sodom und Gomorrha wurde durch die gesamte christliche Traditionsgeschichte hindurch zum schlafkräftigsten Argument gegen Homosexualität stilisiert. Der Text wurde zu dem Beweis schlechthin, dass G:tt schwule Männer hasste.
Die sprichwörtlich gewordenen negativ konnotierten „Sodomiten“ sind bis heute sprachlicher Ausdruck dieser Fehlinterpretation, die unendliches Leid über schwule Männer und andere queere Personen gebracht hat. Es zeigt, welche katastrophale Auswirkung die bewusste Falschauslegung biblischer Verse durch die Jahrhunderte hindurch haben konnte. Sie führten zu Verleumdung und Ausgrenzung bis hin zu Inquisition, Mord und Scheiterhaufen.
Die Geschichte von Sodom und Gomorrha hat maßgeblich zur Legitimierung christlicher Verfolgung und Verdammung von schwulen Männern beigetragen. Es wird Zeit, die Fehlinterpretation endgültig klarzustellen und den Text nie mehr als Waffe gegen unschuldige Menschen einzusetzen.