Queer
Queer ist ein englisches Wort und eigentlich ein Schimpfwort für Lesben, Schwule und alle, die im Hinblick auf ihre Sexualität oder Geschlechtsidentität anders sind. Queer heißt auf Deutsch so viel wie krumm, verrückt, seltsam, pervers . Seit den achtziger und neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts haben Lesben, Schwule, Bi-, Trans* und Inter* Personen (LSBTI*) den Begriff für sich in eine positive Ressource umgewandelt. Queer dient als Selbstbeschreibung für all diejenigen, die sich nicht in heteronormativen Kategorien von Sexualität und Lebensformen und/oder nicht in zweigeschlechtlich (binär) reduzierten Geschlechtsidentitäten wiederfinden. Queer überschreitet diese Normen und Geschlechtskategorien bewusst, verflüssigt und erweitert sie.
Queere Theologie
In diesem Sinn sind queere Theologien keine theologische Disziplin, sondern sie umfassen verschiedene theologische Forschungsperspektiven. Sie reflektieren Erfahrungen von Menschen, die aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder einer nicht zweigeschlechtlichen Geschlechtsidentität Ausgrenzung oder Zurücksetzung erlebt haben oder als anders abgestempelt wurden. Insofern sind queere Theologien kontextbezogen und konkret. Sie verkörpern kritische Reflexionsansätze und Suchbewegungen im Plural.
Queere Theologien bedienen sich verschiedener gesellschaftskritischer Ansätze, um heteronormative theologische Systeme und hegemoniale Männlichkeitskonstruktionen aufzudecken und sich daraus zu befreien.
In gleicher Weise sind queere Theologien nomadische Theologien. Das bedeutet: Ihre Inhalte und Erkenntnisse sind vorläufig und entwickeln sich prozesshaft weiter. Queere Forschungsperspektiven sind in allen theologischen Disziplinen darauf ausgerichtet, scheinbar selbstverständliche Vorstellungen von Sexualität und Geschlechtsidentitäten zu hinterfragen und Grenzen zu überschreiten, also zu „queeren“.
In Ansätzen queerer Theologien werden sexuelle Vielfalt und diverse Geschlechtsidentitäten nicht mehr länger defensiv gerechtfertigt, sondern als gegeben vorausgesetzt.
Im Hinblick auf den biblischen Befund werden daher im Schwerpunkt nicht die wenigen Bibelstellen betrachtet, die sich zu gleichgeschlechtlichen Sexualpraktiken äußern. Sie heißen auf Englisch ‚Clobber Texts‘, also Totschlagverse gegen Homosexualität, wie sie in Levitikus 18,22; Levitikus 20,13; Deuteronomium 23,17; Römer 1,18–32; 1. Korinther 6,9-10 und 1. Timotheus 1,9-10 zu finden sind. Die Texte stehen überwiegend im Kontext von Kultprostitution, Knabenliebe und homosexuellen Sexualkontakten verheirateter Männer in jener Zeit. Sie werden von Bibelwissenschaftler*innen für die Kontexte lesbischer, schwuler und bisexueller Beziehungsformen des 21. Jahrhunderts als nicht aussagekräftig gewertet.
Stattdessen werden die Menschen von der biblischen Gottesebenbildlichkeit her angesehen (Genesis 1,27 f.). Die Gottesebenbildlichkeit verbürgt die Einzigartigkeit und Würde aller Menschen - unabhängig von Herkunft, Hautfarbe, Alter, körperlicher Befähigung, Geschlechtsidentität und sexueller Orientierung. Darüber hinaus werden Menschen mit ihren verschiedenen Lebensformen und Geschlechtsidentitäten vom biblischen Doppelgebot der Liebe (Markus 12,29 ff; Matthäus 22,34 – 40; Lukas 10,25 – 28) her betrachtet. Das Gebot von Gottesliebe, Nächstenliebe und Selbstliebe unterschiedet nicht zwischen einzelnen Personen. Es fordert alle zu Akzeptanz auf.
Darüber hinaus ist die Suche nach nicht-heteronormativen Spuren in der Bibel ein wichtiger Bestandteil queerer Theologien. Geschlechtsneutrale und uneindeutige Gottesbilder werden freigelegt und biblische Identifikationsfiguren rekonstruiert, die auch jenseits von heteronormativen Zusammenlebensformen und Geschlechtsidentitäten gelesen werden können. Dafür werden heteronormative Auslegungstraditionen aufgedeckt und andere Interpretationsmöglichkeiten vorgestellt. Sozial-, kultur- und sprachgeschichtliche Forschungen werden vorangetrieben und hermeneutische Perspektivwechsel eingeübt.
Queeren Forscher*innen ist es wichtig, dass sexuelle Vielfalt und nicht binäre Geschlechtsidentitäten nicht als Sonderthemen der Theologie behandelt werden. Stattdessen werden sie als gleichwertige Themen im Rahmen einer vielschichtigen hermeneutischen Rekonstruktion und einer multidimensionalen Auslegungsarbeit behandelt. Hintergrund dafür ist die fortwährende Nichtbeachtung gegenüber sexueller Vielfalt und diverser Geschlechtsidentitäten im Kanon theologischer Hermeneutik. Das Ausgrenzen dieser Themen führt dazu, dass Dimensionen sexueller Vielfalt und pluraler Geschlechtsidentitäten kaum Eingang in den Mainstream theologischer Abhandlungen finden.
Queer theologische Ansätze fordern daher, Dimensionen von Homo- und Trans*Feindlichkeit mit anderen Unrechts-Dimensionen wie Rassismus, Sexismus, Antisemitismus, Behindertenfeindlichkeit und Altersdiskriminierung zu verknüpfen und als vernetztes Unrechts-Gewebe zu verstehen. Solche multisystemischen Analyseperspektiven sind notwendig, um die vielschichtigen Zusammenhänge von Unrechtsstrukturen und Ungleichheitsverhältnissen angemessen wahrnehmen und beschreiben zu können.
Queere Re-Lektüren biblischer Texte
Queere Re-Lektüren biblischer Texte stützen sich auf die Erkenntnisse der historisch-kritischen Bibelinterpretation. Danach stehen biblische Texte alle in einem sozio-politischen, kultur- und traditionsgeschichtlichen Kontext und einem konkreten sprachlichen Zusammenhang. Diese Parameter müssen transparent gemacht werden, um biblische Texte angemessen im Kontext ihrer Entstehung verstehen und auslegen zu können.
Grundlage der Arbeit ist das historische Abstandsgebot zu biblischen Texten. Es kann durch wörtliche Zitate nicht überwunden werden. Denn die Bibel ist ein zeit- und kontextgebundenes Buch, das in ihrem jahrhundertlangen Entstehungsprozess viele Bearbeitungs- und Redaktionsschritte erfahren hat.
Queere Bibelauslegungen vollziehen exegetische und hermeneutische Arbeitsschritte bewusst aus queerer Perspektive. Sie nutzen sprachliche Vielschichtigkeit, literarische Zwischenräume, Ungesagtes und Leerstellen in den biblischen Texte, um auf die schöpferische Auslegungsarbeit jeder Bibellektüre hinzuweisen. Sie markieren ihre Auslegungsperspektiven bewusst als intersubjektive Resonanzräume zwischen antiken biblischen Texten und queeren Kontexten des 21. Jahrhunderts. Biblische Texte werden undogmatisch und provokant quer gebürstet und auf hybride Körper- und Geschlechterdarstellungen hin überprüft. Homoerotische und queere Spuren in Bibeltexten werden aufgespürt und kontextualisiert.
Beispiele für queere Re-Lektüren biblischer Texte gibt es auf evangelisch.de in der Rubrik kreuz & queer mittlerweile einige. Hier eine Auswahl:
Zum Weiterlesen
Patrick Cheng, Radical Love. An Introduction to Queer Theology (2011), Seabury Books
Kerstin Söderblom, Queer Theologische Notizen (2020), Esuberanza
Linn Tonstad, Queer Theology (2018), Cascade Books