„Falsche Bescheidenheit ist nicht (gerade) nett zu Gott.“ Diesen Satz sagt in der queeren Serie „Transparent“ die schwer fromme, evangelikale Mutter zu ihrem zurückhaltenden Sohn Colton.
Gottebenbildlichkeit, meint aber mehr als das. Lateinisch: Imago Dei, griechisch: ????? ??? ????, eik?n tou theou. Eikon: Ikone Gottes – das sind wir. Ganz schön umwerfend, diese Aussage! Aber was genau heißt das eigentlich: Gottes Ebenbild? Und was hat das für queere Menschen für eine besondere Aussagekraft?
Um den Vorgang der Imago in der Natur zu beschreiben, zitiere ich Pfarrer Werner Küstenmacher aus seiner Predigt – zwar zu einem anderen Thema – bei den evangelischen Morgenfeiern:
„In der Biologie nennt man einen fertigen Schmetterling ‚Imago‘, das ist Lateinisch und heißt ‚Bild‘. Von Anfang an, in der Samenzelle, im Ei, in der Raupe – in allen Entwicklungsstadien eines Schmetterlings ist das Bild vom endgültigen Lebewesen in seinen Zellen vollständig enthalten, die genaue Form und Größe seiner Flügel, jedes Muster und jede Farbschattierung auf seinen Millionen von Schuppen. Doch immer wieder musste der Schmetterling auf dem Weg zur Vollendung dieses Bildes etwas zurücklassen. Zuerst die winzige Hülle des Eis. Dann wurde er eine Raupe, aber die musste sich weiter häuten und leere Hüllen zurücklassen. In der Regel vier Mal, bis sie sich in einem Kokon einspinnt und vollständig darin auflöst. Dort erst erreicht der Schmetterling seine vollständige, farbenprächtige Gestalt – und die wunderbare Fähigkeit, zu fliegen.“[i]
Diese komplexe Biografie von Schmetterlingen kann man wie ein Gleichnis lesen. Verwandlungen, Abschiede und Neuanfänge sind in der Natur selbstverständliche Vorgänge – sie gehören zu Lebewesen dazu, sie gehören zu uns dazu. Das Imago hat also ganz viel mit Transformationen zu tun. Ganz schön queer also!
Kennt ihr das ….? Man hat dieses Bild von sich, das Imago, Selbst-Bild – das bin ich. oder vielmehr noch: Das ist das, was ich werden will. Oder was ich gern von mir zeigen will. Was ich endlich leben will. Was raus will. …
„Gott hat uns diesen Dienst übertragen und uns dazu sein Erbarmen geschenkt. Deshalb lassen wir den Mut nicht sinken. Im Gegenteil: Wir haben alles heimliche Tun vermieden, für das wir uns schämen mussten.“ So heißt es im 2. Korintherbrief, Kapitel 3.
Paulus beschreibt hier, wie er und seine Mitarbeitenden im neuen Glauben an Christus leben und handeln – und wie ihr Glauben ihnen Mut gibt, dieses neue Leben weiter zu gestalten.
In queeren Biografien gibt es sie auch, die „neuen“ Leben. Etwa nach dem schwulen oder lesbischen Coming Out oder in einer neuen Beziehung oder wenn ein Mensch endlich die Kleider seines wahren Geschlechts trägt. Oder wenn eine Person sich endlich traut, ihre SM-Neigung auszuleben, für die sie sich vorher geschämt hat. Wenn ein intergeschlechtlicher Mensch endlich ein Wort dafür hat, was er ist, oder wenn eine Pansexuelle sich selbst ernstnimmt in ihrer Identität.
Die Liste von Situationen und Lebensabschnitten ist so vielfältig wie wir selbst. Aber in was auch immer wir uns verwandeln, wir sind und bleiben Gottes Ebenbild – und werden es immer mehr. Wir alle stehen mit unverhülltem Gesicht vor Gott und spiegeln seine_ihre Großartigkeit wider – so heißt es ebenso im 2. Korintherbrief.
Aber diese Gottebenbildlichkeit darf nicht umgekehrt werden: Wir dürfen uns Gott nicht nach unserem Bilde machen. Denn da wir auf der Welt fast 8 Milliarden Ikonen sind, machen wir uns lieber KEIN Bild von Gott.
Kein fertiges Bild von Gott zu machen, heißt auch, mir keines meines Gegenübers zu machen; ich kann mir nicht aussuchen, wie mein Gegenüber geschaffen ist. Manchmal bringt der Mensch, den man eigentlich liebt, fast zur Verzweiflung. Manchmal verliert man die Geduld mit dem Kollegen. Und manchmal nervt das eigene Kind so sehr. Und nicht zuletzt können eine_n auch die Mit-Aktivist_innen aus der Fassung bringen.
Aber: What if God was one of us … Auch die Person, die mir auf den Keks geht, mir an die Nieren geht, ist eine Ikone Gottes. So weit so schwer.
Das heißt keineswegs: Lasst uns einander aushalten, egal wie sehr wir uns schaden. Nein, das meine ich nicht! Aber gerade unter uns queeren Geschwistern wieder viel mehr das gemeinsame Ziel zu suchen als die vermeintlichen Differenzen zu zementieren. Einander als Ikonen Gottes behandeln, als König_innen.
Im Rabbinischen nämlich, wo unsere christliche Vorstellung der Gottebenbildlichkeit ihren Ursprung hat, wird der Mensch mit einer Ikone, dem Standbild eines Königs, verglichen. Dieser Vergleich ist kein Ist-Zustand, sondern Aufruf zum Miteinander, zur Gerechtigkeit und Aufrichtigkeit. Unsere Gottebenbildlichkeit ist also auch und vor allem unsere Fähigkeit zum ethischen Handeln. Oder anders gesagt: Gott ermutigt uns als ihre Ebenbilder ihr nachzueifern.
Das heißt die anderen mit ihrer Imago-Geschichte wahrzunehmen – aber auch mich selbst! Die alte philosophische Weisheit „Werde, wer Du bist“ entpuppt sich als die wohl größte Lebensaufgabe. Und wie Hermann Hesses Ich-Erzähler in seinem berühmten Werk Demian sagt: „Ich wollte ja nichts als das zu leben versuchen, was von selber aus mir heraus wollte. Warum war das so sehr schwer?“ – so kennen es viele Menschen. Ich auch.
Zu machen, schaffen, leben und sein, was aus einem oder einer selber „heraus will“, gilt erst recht für queere Menschen oft als große Herausforderung. Und alle, die in dieser großen Herausforderung sich selbst zu leben einmal so was wie Freiheit gespürt haben, haben ganz wahrhaftig die heilige Geistkraft Gottes gespürt. Denn wo der Geist Gottes ist, ist Freiheit.
[i] https://www.sonntagsblatt.de/artikel/glaube/predigt-abschied-johannes-3-1-8