"Meine Queerness nimmt deiner Straightness nichts weg!". Vor einigen Wochen war ich in einem Restaurant. Dort las ich diesen Satz auf einer Postkarte. Und es regte sich sofort Widerspruch in mir. Nicht gegen die Person, die das gesagt hat. Auch nicht gegen den Podcast, aus dem das Zitat stammt. In diesem Kontext mag die Aussage ihre Richtigkeit gehabt haben. Doch als Slogan, markig auf einer Postkarte öffentlich präsentiert, da bereitet mir der Satz Unbehagen.
Queerness und Straightness: Das sind offenkundig Ableitungen von den Begriffen Queer und Straight. So wie diese beiden Worte auf der Postkarte verwendet werden, suggerieren sie eine Essentialisierung und eine Dichotomie. Dies ist allerdings höchst problematisch, weil es das was queere Theorien und Politiken verfolgen ins Absurde führt. Meine Queerness, deine Straightness, das klingt so, als ob es sich hierbei um gegensätzliche Wesenseigenschaften von Personen handelt. Der eine ist queer, die andere ist straight. Wer straight ist, der kann nicht queer sein und vice versa. Doch eben solche Kategorisierungen werden durch queer problematisiert. Queer will die Mechanismen der Einteilung von Menschen nach Geschlechtern und Sexualitäten sowie die daraus resultierenden Unterdrückungsverhältnisse aufdecken, analysieren, der Kritik zugänglich machen und dadurch zu deren Beendigung beitragen. Der Wille das zu tun ist eine wissenschaftliche und politische Überzeugung. Genau so wenig, wie eine Physikerin die Persönlichkeitseigenschaft der Physikness in sich trägt, die ihr menschliches Wesen komplett durchdringt und sie erst dadurch zur Physikerin macht, gibt es so etwas wie eine Queerness. Sich mit den Werten der Queertheory identifizieren, das kann jeder Mensch, egal ob sich dieser nun als homo- respektive bisexuell, transgeschlechtlich oder aber als straight, was ja nichts anderes als Englisch für heterosexuell ist, bezeichnet. Ich habe meine Kritik an der sinnentleerenden Verwendung des Begriffes Queer bereits ausführlich an anderer Stelle in diesem Blog dargestellt und will es deshalb bei diesen kurzen Ausführungen dazu belassen. Mein Fokus ist im Folgenden ein anderer.
Kürzlich sah ich bei facebook eine Anzeige. Dort wurde vor versteckten Kosten bei der Hochzeitsplanung gewarnt. Unter der Werbebotschaft fanden sich erstaunlich viele Smileys, die Wut symbolisieren sollen, außerdem eine große Zahl negativer Kommentare. Diese ablehnenden Reaktionen richteten sich jedoch in den wenigsten Fällen gegen das Thema der Anzeige an sich. Stattdessen wurde von vielen User:innen ihr Unmut darüber kundgetan, dass das Bild mit dem das Inserat warb, ein Hochzeitspaar zeigte, das aus zwei Männern bestand. Dieses Geschehnis lässt sich mit der folgenden fiktiven Szene vergleichen: Der vierjährige Bruder und seine dreijährige Schwester sitzen am Küchentisch. Darauf liegen Plätzchen in Hülle und Fülle. Viel mehr als eines der Kinder jemals allein verzehren könnte. Unbesehen dessen bekommt der Bruder einen Tobsuchtsanfall, als sich seine Schwester einen der Kekse nimmt. Auch die beruhigenden Worte des Vaters, dass doch für beide Geschwister genug Gebäck da sei, kann den kleinen Jungen nicht besänftigen. In den Augen des Bruders nimmt ihm die Schwester etwas weg, was nur ihm allein zusteht. Die User:innen, die sich im Kontext der facebook Anzeige negativ äußern, verhalten sich ähnlich. Das wird daran deutlich, dass der Tenor ihrer negativen Kommentare auf die Frage verdichtbar ist, warum es denn sein müsse, dass hier ein gleichgeschlechtliches Hochzeitspaar gezeigt werde. Aus einer queeren Perspektive kann nun zurückgefragt werden, wen das Inserat denn sonst zeigen solle. Oder auch: Warum es überhaupt wichtig ist, welches Geschlecht die Partner:innen haben. Die Antwort derer, die sich echauffieren, scheint auf der Hand zu liegen: Nicht zwei Männer, sondern ein Paar, das als heterosexuell gelesen wird, müsste nach ihrer Meinung in der Anzeige abgebildet seien. Hierin kommt ein hegemonialer Anspruch zum Ausdruck. Die Repräsentation von Liebesbeziehungen, Partner:innenschaften und Ehen soll heterosexuellen Praxen vorbehalten bleiben. Wenn überhaupt, dann wird allen anderen Formen höchstens gestattet in eigens dafür vorgesehenen Nischen in Erscheinung treten zu dürfen, wie etwa in Form einer Werbung auf einer facebook Seite die als LGBT- spezifisch markiert ist. Alles soll so sein, dass die Norm des Heterosexuellen eindeutig von ihren als solchen definierten Abweichungen des Homo-oder Bisexuellen erkennbar getrennt und damit unterscheidbar bleibt. Verhandelt wird, welche Sexualitäten beziehungsweise Geschlechter ein Recht auf öffentliche Repräsentation haben und in welchem Umfang dies realisiert werden darf. Den hegemonialen Anspruch, dass Heterosexualität dabei eine legitime Vormachtstellung haben sollte, den stellen queere Theorien respektive Politiken offensiv infrage. Queer bedeutet, sich in Verteilungskämpfe einzumischen sowie in ihnen eine eindeutige Position zu beziehen. Dabei geht es um symbolische Repräsentationen, aber ebenso um den Zugang zu öffentlichen Ressourcen oder rechtliche Regulierungen. Der Ansatz von queer ist es zu sagen, dass die Normierung der Heterosexualität als Normalfall große Ungerechtigkeiten hervorbringt, die alle Menschen, die dieser Norm nicht entsprechen, benachteiligt – und auch die, die ihr vermeintlich entsprechen in vielen Fällen unterdrückt. Queer drängt auf ein Ende dieses Zustandes. Queer will neu verhandeln, wie unsere Gesellschaft, darin inbegriffen auch Kirchen und Gemeinden, organisiert sind. Wir leben weiterhin in einer Welt voller Privilegien für Menschen, die heterosexuell lieben. Queeren Theorien und Politiken ist es immanent, diese Privilegien wegzunehmen, es ist der queere Antrieb.
Der Begriff wegnehmen ist tendenziell negativ konnotiert. Schnell kommt uns die Assoziation in den Sinn, dass etwas zu Unrecht weggenommen wird. Aber darüber, ob das Wegnehmen rechtmäßig ist oder nicht, macht das Wort gar keine Aussage. Kommen wir noch einmal auf das Keksbeispiel zurück. Wenn sich die kleine Schwester eines der Plätzchen vom Tisch wegnimmt, dann ist das absolut in Ordnung. Schließlich hat der Vater den Kindern die Süßigkeiten ja genau zu diesem Zweck dort hingelegt. Wenn hingegen der große Bruder seiner Schwester ihren Keks wieder aus der Hand reißt, weil er es nicht ertragen kann, dass sie auch eines der Gebäcke abbekommt, dann ist diese Form des Wegnehmens nicht legitim.
Queer bedeutet nichts anderes, als Kritik daran zu üben, wie die Kekse in unserer Gesellschaft verteilt sind. Daran etwas zu ändern ist ohne Kämpfe kaum realisierbar. Queere Bewegungen, Theorien oder Politiken, die ganz lieb sind, die keine:r etwas wegnehmen, die so zusagen nicht weh tun, die kann es nicht geben, denn das ist ein Widerspruch in sich. Queer ist eine Selbstermächtigung, bei der die Unterdrückten zu denen, die von den gegenwärtigen Ungerechtigkeiten profitieren, sagen: Du hast da etwas, das Dir nicht allein gehört, das Dir nicht allein zusteht und es schadet mir, dass Du es für Dich allein behältst. Ebenso wie bei dem kleinen Jungen im Beispiel wird dieses Anmahnen bei vielen (nicht bei allen) auf Unverständnis, Widerstände und Aggressionen stoßen. Genau das erleben wir ja allenthalben. Welche Geschlechter dürfen in unserer Sprache auftauchen? Stichwort: Gendern. Wer darf legitim an dem Konstrukt Frau partizipieren? Stichwort: Selbstbestimmungsgesetz. Wessen Kinder haben ein Recht auf Eltern, die die Gesetzgeberin auch als solche anerkennt? Stichwort: Abstammungsrecht. Um nur einige Fragen zu benennen, die queere Aktivist:innen und deren Gegner:innen aktuell bewegen.
Queer zu handeln heißt Verteilungskämpfe nicht zu scheuen. Glücklicher Weise gibt es mittlerweile eine wachsende Zahl von Personen, die erkannt haben, dass die Privilegien, die sie nur deshalb besitzen, weil sie heterosexuell lieben, ihnen nicht zustehen sollten. Einige dieser Menschen setzen sich ihrerseits für queere Ziele ein. Das heißt, sie arbeiten aktiv an der Abschaffung von Privilegien, deren Nutznießer:innen sie selbst sind. Sicherlich ist diese Entwicklung auch ein Resultat von queeren Politiken, die in der Vergangenheit für Ungerechtigkeiten sensibilisiert haben. Jene, die auf dem Anspruch einer Hegemonie der Heterosexualität bestehen, gibt es trotzdem weiterhin. Nicht nur, aber gerade auch dann, wenn die Argumente dieser Personen zur Neige gehen, treten Affekte besonders stark hervor. Beispielhaft sei hier nur die Diskussion genannt, ob Kinder bei Eltern, die gleichgeschlechtlich lieben, aufwachsen sollen. Dass es nach wissenschaftlichen Maßstäben keine haltbaren Fakten gibt, die dem entgegenstehen, lässt die Diskriminierung solcher Familien nicht abreißen. Das was in Menschen entgegen jeder Vernunft, die Kategorisierung und Ausgrenzung anderer vehement einfordern lässt, kann sowohl Ausdruck innerer Not sein als auch zu eben solcher führen. Mögliche Ursachen hierfür sind gekränkte Eitelkeiten, Narzissmus, Grandiositätsvorstellungen, aber auch Ängste vor Zusammenbruch und Kontrollverlust sowie eine Ambiguitätsintoleranz. Diese Phänomene gibt es. Sie sind Realität. Und es stellt sich die Frage des Umgangs damit. In vielen Fällen scheinen diese inneren Konflikte in Beratung, Seelsorge oder Psychotherapie besser aufgehoben, als in öffentlichen Debatten. Die Entscheidung über den Umgang damit, müssen die Betroffenen allerdings selbst treffen, denn es ist kein queerer Ansatz, Menschen zu pathologisieren oder entgegen ihrem Willen in medizinische Hilfen zu zwängen. Und weil eben viele in destruktiver Weise auf ihre diskriminierenden Einstellungen beharren, werden die Konflikte darüber, wer, wie und in welcher Weise, auf Grund der individuellen Sexualität sowie des individuellen Geschlechts leben darf, nicht einfach verschwinden.
Kein Mensch lebt gern in einer Situation des dauernden Konfliktes. So etwas nagt an uns. Wir fühlen uns unwohl, unsicher, wollen das Belastende auflösen. Trotzdem, dieser Umstand sollte niemals dazu verleiten den Anspruch queerer Politiken zurückzustellen oder gar aufzugeben. Auch nicht um des lieben Friedens willen. Der dann doch ein fauler Frieden ist. Das Bild einer harmonischen Koexistenz von queeren Ansätzen und heterosexueller Hegemonie ist eine Illusion. Es sind zwei gegensätzliche Gesellschaftsentwürfe. Da wo das eine Praxis ist, kann das andere nicht verwirklicht sein. Wer etwas anderes postuliert, sollte sich fragen, ob er sich wirklich queeren Zielen verpflichtet fühlt oder doch nur in kompliz:innenhafter Weise eine Nische in der heterosexuellen Hegemonie einnehmen will, um dort ein möglichst ruhiges Leben führen zu können. Gerechtigkeit, Freiheit und die Menschenwürde dürfen nicht den inneren Nöten jener geopfert werden, denen diese Werte Angst machen. Queer heißt Verteilungskämpfe auszuhalten, mutig zu bestreiten, souverän zu bleiben und da wo immer es uns möglich ist, Privilegien wegzunehmen. Ein anderes queer darf, ja kann es nicht geben.