Queer und öffentlich? Hermeneutik des queeren Verdachts gestern und heute.
IMG, pixelio.de
Was geben wir von uns in den sozialen Medien und anderswo preis? Wie öffentlich sind wir als queere Christ*innen? Auch heute noch lohnt es sich mitunter, Biographien und Geschichte(n) mit der Brille des queeren Verdachts zu lesen. Auch in den biblischen Texten lassen sich mit dieser Brille mehr Spuren von Queerness erkennen, als manche*r vielleicht denkt.

"Hermeneutik des Verdachts" - so lautet ein zentraler Begriff der Bibelauslegung feministrischer Theologie. "Erfunden" wurde sie von der katholischen Theologin Elisabeth Schüssler-Fiorenza, einer der herausragenden feministischen Theologinnen der 1980er Jahre. 1983 veröffentlicht sie "In Memory of Her" (deutsch: "Zu ihrem Gedächtnis") und schlägt als Grundsatz feministischer Bibellektüre eine Hermeneutik des Verdachts vor: Da die biblischen Texte in einem patriarchalen Umfeld entstanden seien, sei davon auszugehen, dass Rolle und Bedeutung von Frauen in den frühen christlichen Gemeinden eher kleingeredet würden. Gerade auch restriktive Regeln über das Miteinander von Frauen und Männern (wie z.B. 1.Tim 2,8ff) seien - mit dieser Hermeneutik des Verdachts gelesen - ein Zeichen dafür, dass Frauen offenbar eine sehr aktive Rolle in den Gemeinden hatten.
(Eine gute Vertiefung zur feministischen Hermeneutik findet ihr im WiBiLex)

Queere Bibellektüre arbeitet ebenfalls immer wieder mit der Hermeneutik des Verdachts. Freilich müssen wir dabei berücksichtigen, dass sowhol die romantische Liebesbeziehung und -heirat aus auch die Erkenntnis, dass Homosexualität ein konstituierendes Persönlichkeitsmerkmal ist, Phänomene der Neuzeit sind. Dies im Hinterkopf entdeckt queere Hermeneutik aber zum Beispiel in der Totenklage Davids über Jonathan eine Emotionalität und Innigkeit, die nahelegt, dass es sich bei dem Verhältnis der beiden doch um einiges mehr als eine "Waffenbruderschaft" gehandelt haben könnte:
Es ist mir leid um dich, mein Bruder Jonatan, ich habe große Freude und Wonne an dir gehabt; deine Liebe ist mir wundersamer gewesen, als Frauenliebe ist. (2.Sam 1,26)

Auch die besonders schöne und farbenprächtige Kleidung Josefs (1. Mose/Gen 37,3 und 23) wird in einer Hermeneutik des queeren Verdachtes als mögliches Zeichen von Queerness gelesen. Letzte Woche habe ich in einem Text Züge von Queerness entdeckt, der römisch-katholischen Geschwistern zumindest in Teilen sehr vertraut ist, da es sich um zentrale Worte der eucharistischen Liturgie handelt: "Herr, ich bin nicht würidg, dass du eingehst unter mein Dach, aber sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund." HInter diesen Worten steht die Geschichte eines römischen Hauptmannes und seines Knechtes, wie sie im Matthäus- und im Lukas-Evangelium erzählt ist (Mt 8,5-13 und Lk 7,1-10).

Bei Matthäus ist es eine relativ knapp gehaltene Heilungsgeschichte, in der der Glaube des nicht-jüdischen Hauptmanns hervorgehoben wird. Lukas dagegen erzählt etwas ausführlicher - und weckt den queeren Verdacht. Der Knecht des Hauptmanns ist schwer erkrankt (bei Matthäus gelähmt, bei Lukas todkrank). Der Hauptmann befiehlt über eine Vielzahl von Militärs, die Tatsache, dass er sich des Knechts in so besonderer Weise annimmt, ist zunächst einmal ein sicheres Zeichen dafür, dass es sich hier um seinen persönlichen Knecht handelt, seinen Adjutanten oder persönlichen Referenten, um es mit heutigen Worten zu sagen. Dies ist in beiden Erzählungen offenkundig, Lukas aber ergänzt ein Detail: Der Knecht sei dem Hauptmann "lieb und wert gewesen" (Lk 7,2). Hier kommt eine Innigkeit zum Ausdruck, die bei Matthäus fehlt... Und noch ein anderes Detail der lukanischen Version ruft den Verdacht hervor, dass hier mehr Queerness im Spiel sein könnte, als auf den ersten Blick zu vermuten: Anders als bei Matthäus kommt der Hauptmann bei Lukas nicht selbst zu Jesus, sondern schickt die Ältesten der Juden. Diese setzen sich bei Jesus mit Nachdruck für den heidnischen Hauptmann ein: "Er ist es wert, dass du ihm dies erfüllst; denn er hat unser Volk lieb, und die Synagoge hat er uns erbaut." (Lk 7,4f). Der führende Militär der römischen Besatzungsmacht zeigt sich hier als Philanthrop, Menschenfreund, der dafür Sorge trägt, dass die Menschen in seinem Zuständigkeitsbereich würdig ihre Gottesdienste feiern können. Schließlich erweist sich dieser militärische Stratege auch noch als (inter-)religiös sensibel und theologisch interessiert, so dass er Jesus übermitteln lässt: "Ach, Herr, bemühe dich nicht; ich bin nicht wert, dass du unter mein Dach gehst; darum habe ich auch mich selbst nicht für würdig geachtet, zu dir zu kommen; sondern sprich ein Wort, so wird mein Knecht gesund." (Lk 7, 6f). Queeren Verdacht wird man doch hier schon mal äußern dürfen, oder?

Biographien und Geschiche(n) mit einem queeren Verdacht zu lesen - das ist aber keinewegs nur eine Herangehensweise an Texte der Vergangenheit. Auch Personen und Ereignisse der Gegenwart lesen wir ja mit dieser Brille des queeren Verdachts: Steckt hinter der homophoben Haltung dieser oder jener öffentlichen Person die Angst vor der eigenen, verdrängten Homosexualität? Engagiert sich eine andere Person für Vielfalt und Queerness, weil sie selber queer lebt, auch wenn sie selber das nicht thematisiert? (Oder auch: Wie kann jemand stellvertretende Fraktionsvorsitzende einer mehr oder weniger offen homophoben Partei sein, die selber in einer lesbischen Beziehung lebt?)

Im Zeitalter der individuellen Selbstoffenbarung in der Vielfalt der sozialen Medien stellt die Hermeneutik des queeren Verdachtes auch die Rückfrage an uns selbst als Queers, wie und in welcher Weise wir mit unserer Queerness öffentlich werden. Und als queere Christ*innen verbindet sich damit oft die Frage, wie wir in dem oft kirchenkritischen bis -feindlichen Kontext der Szene aus queere Christ*innen erkennbar sind. Fragen, mit denen sich die Jahrestagung Schwule Theologie 2021 im Waldschlösschen beschäftigen wird!