K.P.: Du bist in eine protestantische Freikirche quasi hineingeboren worden. Als Kind eines Pastors der Siebenten-Tags-Adventisten haben Glaube und Gemeindeleben sicher eine große Rolle bei euch in der Familie gespielt.
L.S.: Ja, das stimmt. Als Kind habe ich das als sehr positiv empfunden. Die Herausforderungen, die ich damit hatte, kamen dann erst später. Die Wochenenden haben wir in der Gemeinde mit anderen Kindern verbracht, und es gab viele Erwachsene, zu denen ich einen positiven Bezug hatte. Es gab viel geteiltes Essen und Gemeinschaft, das war cool. Freitags gibt es immer eine Andacht bei den Adventisten, und samstags wird der Sabbat gefeiert, der Siebente Tag. Erwartet wird die Ankunft Christi auf der Erde, daher kommt das Wort Advent oder Adventisten. Die Gottesdienste am Samstag sind üblicherweise recht lang mit einem Bibelgespräch und einer Predigt. Dazu kommen oft Vorträge, etwa zu Ernährung und Erziehung, Konzerte usw. Und natürlich Veranstaltungen zu theologischen Themen. Ich habe dort viel Allgemeinbildung mitbekommen.
Ja, den Verstand zu pflegen ist wichtig. Das liegt schon in der Gründungsgeschichte der Adventisten im 19. Jahrhundert. Kinder sollten alle lesen und rechnen lernen. Adventisten haben unter anderem deshalb auch eigene Schulen gegründet.
Und Ernährung ist ebenfalls ein großes Thema. Meine Eltern leben vegetarisch. Adventisten essen in der Regel kein Schweinefleisch und keine Meeresfrüchte, trinken keinen Alkohol, rauchen nicht usw.
Sehr evangelisch sind Adventisten ja darin, dass das Wichtigste die Bibel ist: Nur das Wort zählt. Allerdings gelten sie dabei als sehr konservativ und eine rigoristische Bibelauslegung hegend. Wenn man der Bibel wortwörtlich folgt, kommt man da nicht ins Strudeln aufgrund der ganzen Widersprüche, die sich darin finden?
Viele Widersprüche werden aufgelöst, indem man sich sehr intensiv beschäftigt mit den Texten und ihre Kernbedeutung stark macht. Zum Beispiel die zwei Schöpfungsgeschichten, da geht es einmal um das Physische, in der wird alles hergestellt, und beim zweiten Mal um das Geistliche. Und beide ergänzen sich.
Und wie schaut es mit dem Umgang mit Homosexualität aus?
In den meisten adventistischen Kreisen ist Homosexualität aufgrund der Interpretation der heiligen Schrift leider nicht akzeptiert. Wenn man homosexuell ist, soll man es nicht ausleben. Aber Homosexuelle zu verfolgen, wäre auch wiederum nicht mit der Schrift zu vereinbaren.
Wie war das in deiner Gemeinde?
Das „gab“ es da nicht! Es gab einfach niemanden, der sich als homosexuell geoutet hat, zumindest nicht offen! Ausschlüsse gab es schon, z.B. wegen „Ehebruch“, also etwa wenn jemand, der oder die verheiratet war, Sex außerhalb der Ehe hatte oder wenn jemand sich hat scheiden lassen, obwohl es nicht aufgrund von Ehebruch war. Also auch bezüglich anderer Fragen rund um Sexualität und Beziehung sind die Adventisten konservativ bzw. rigide.
Sex vor der Ehe ist auch nicht vorgesehen. Wobei sich da meine Altersgenossen aus der Gemeinde nicht unbedingt dran gehalten haben. Man hat es halt einfach nicht an die große Glocke gehängt.
Es wurde also nicht drüber geredet?
Schon! Aber eher in theoretischen Kursen. Oder in Predigten. Ich hatte aber nicht das Gefühl, dass es eine antisexuelle Haltung ist, so wie in Teilen der katholischen Kirche, mit dem Zölibat. Es hieß halt nur, man solle warten.
Begründet wurde das alles, auch die Ablehnung von Homosexualität, mit dem Idealbild Gottes, das die Ehe zwischen Mann und Frau sei. Sie sei das, was Gott sich wünscht. Und ich vertraue Gott und gebe mich meinen eigenen Neigungen nicht hin.
Was hat das mit Dir gemacht? Hat dich das beeinflusst? Als Kind, als Jugendliche? Als transidente Person, als bisexueller Mensch?
Als Kind hat mir das total eingeleuchtet alles. Ist ja klar. Die Erwachsenen haben das so vermittelt, und ich habe es angenommen. Aber irgendwann habe ich mich gefragt, ob das wirklich so gut ist alles. Vielleicht ist es gut gemeint. Aber wie man so sagt: Gut gemeint ist oft schlecht gemacht.
Ich habe angefangen, Sachen zu hinterfragen. Denn ich habe ein sehr starkes Gerechtigkeitsdenken. Bevor ich mich selbst als bi identifiziert habe, habe ich mich z.B. schon gefragt: Warum kriegen Homosexuelle immer eins aufs Dach? Und ja, auch aufgrund meiner Transidentität habe ich viele Sachen auch nicht mehr so nehmen können.
Und mich hat oft die Doppelmoral gestört: Ich gehe heim und schlag meine Frau, aber Hauptsache ich bin nicht schwul. Oder so.
Und mir kam es schnell als leidig vor, dass so viel Zeit und Aufwand in das Thema Homosexualität gesteckt wurde. Es gibt so viele andere Themen, über die man diskutieren kann.
Wurde bei euch viel über Homosexualität diskutiert in der Gemeinde?
Ja, in den theologisch interessierten Kreisen schon.
Und es war immer die Frage: Was will Gott wirklich? Es geht ja bei uns immer darum, was Gott will. Es geht nicht so sehr darum, was ich will, sondern: Was will Gott. So wie Jesus sagt: Mein Wille soll nicht geschehen, sondern es geschehe Gottes Wille. Es gibt Leute, die partout glauben, dass Homosexualität nicht Gottes Wille ist.
Wie gut manche Menschen doch Gottes Willen zu kennen scheine! Ist Gott dann eigentlich immer außerhalb von mir?
Nein, also wenn es um seinen Willen geht, dann ist Gott das Gegenüber, ja. Aber wenn es darum geht, den Willen umzusetzen, dann ist er Teil von mir.
Aha, das ist diffizil.
Wie war das für dich als queere Person – hast du irgendwann deinen Glauben infrage gestellt oder dich von Gott nicht mehr geliebt gefühlt, wenn Menschen in deiner Gemeinde gesagt haben, dass Homosexualität und Transidentität nicht Gottes Willen sind?
Nein, gar nicht. Ich habe mich immer von Gott geliebt gefühlt als die, die ich bin. Aber ich habe viel gehadert. Warum muss ich so etwas Schmerzvolles erleben?! Warum kann ich nicht „normal“ sein?! Warum hilft mir Gott nicht?! Mein Leben wäre viel einfacher gewesen ohne die Transidentität. Aber ich habe nie Gott an sich in Frage gestellt.
So auf die Art: Ich bin von Gott geschaffen, so wie ich bin. Aber warum bin ich ausgerechnet so geschaffen?
Ja, das trifft zu. Warum kann ich nicht anders sein, habe ich mich oft gefragt. Und ich habe lange gebraucht, um zu sehen, dass es ok ist, wie ich bin. Denn in den christlich-konservativen Kreisen, in denen ich aufgewachsen bin, wurde mir ja gesagt, dass Gott das so nicht will. Aber ich bin drauf gekommen, dass das eher die Menschen sind, die das nicht wollen, und Gott hat vielleicht doch gar kein so großes Problem damit. Und momentan bin ich dabei, zu schauen, wie ich einen anderen Weg für mich finden kann. Das bedeutet, dass ich die Lehrmeinungen, die ich als Kind mitgeteilt gekriegt habe, stark hinterfrage.
Welche genau?
Alle bezüglich Sexualmoral, Homosexualität, kein Sex vor der Ehe usw. Ich möchte nicht alles niederreißen, was da ist. Aber ich wünsche mir Offenheit und dass Menschen ihren Bias überprüfen – ihre Voreingenommenheit. Und eingestehen, dass man vielleicht einen kulturell bedingten Fehler gemacht hat in der Auslegung und die Bibel vielleicht gar nicht so krass gegen Homosexuelle wettert. Und auch nicht gegen Transmenschen. Zu Trans steht ja eh gar nichts Negatives in der Bibel. Das habe ich mir genau angeschaut.
Gab es denn in deiner adventistischen Gemeinde auch Aussagen gegen transidente Menschen?
Nein, das nicht. Ich habe es mir diesbezüglich wahrscheinlich schwerer gemacht, als es hätte sein müssen. Ich habe angenommen, dass die Menschen gegen meine Transidentität sein würden. Aber als es dann so weit war, sind eigentlich alle gut damit umgegangen. Zumindest theologisch. Persönlich taten sich viele schwer, etwa wenn es um gemeinsame Erinnerungen ging.
Wie war oder ist das in deiner Familie?
In meiner Familie wird alles immer theologisiert. Es werden Lehrsätze oder Bibelstellen herangezogen. Auch und gerade, wenn es persönlich schwierig wird; es bleibt bei einer allgemeinen Aussage, man spricht die Dinge nicht wirklich aus. Das ist meine Erfahrung. Das Theologische wird vorgeschoben, dahinter ist das Persönliche, um das es eigentlich geht. Und so war das auch, als ich gesagt habe, dass ich nun als Frau lebe.
Und mittlerweile?
Na ja, sie haben sich dran gewöhnt, dass ich als Frau lebe. Eine Frau bin. Unsere Interaktion hat sich normalisiert, auch durch meine äußere Veränderung bedingt. Ich habe vor zwei Jahren mit der körperlichen Transition begonnen und habe mich sehr verändert, durch eine Gesichtsoperation und Hormone. Meine Eltern hatten vor allem Angst, dass es nicht so wird, wie ich mir das vorstelle. Sie wollten mich nicht leiden sehen. Sie hatten auch Angst, dass ich vielleicht darauf komme: Das ist doch nichts für mich. Nun merken sie, dass es mir sehr gut geht damit und dass es das Richtige für mich ist. Jetzt tun sie sich leichter damit.
Sie haben sich lange gegen meine Transidentität gewehrt. Das war sehr schmerzhaft für mich. Ihre Überzeugungen gehen nicht plötzlich einfach so weg, aber sie bemühen sich. Es ist nicht mehr ein so großer Konflikt da.
Und was ist mit der adventistischen Gemeinde? Bist du noch Teil davon?
Na ja. Offiziell ja. Aber ich war das ganze Jahr nicht dort. Aus verschiedenen Gründen, auch wegen Corona.
Wie wäre das, wenn du als Frau, jetzt auch mit der körperlichen Geschlechtsangleichung, in den Gottesdienst kämst?
Das ist eine gute Frage! Aber ich glaube, das wäre schon okay. Ich habe mich dort ja geoutet und gesagt, dass ich erst mal eine Weile nicht komme. Das ist psychologisch besser für mich. Ich möchte, soweit es geht, mich optisch verändert haben, weil sich die Leute dann leichter tun, ihre Perspektive – die Art, wie sie mich wahrnehmen – zu ändern.
Identifizierst du dich schon noch als Christin?
Ja!
Und als Adventistin?
Schon. Einerseits aus Gewohnheit. Aber auch, weil ich an viele Dinge aus dem Adventismus glaube. Etwa an die Wiederkunft Jesu Christi auf die Erde und die Rettung vor der Sünde und dem Satan im kosmischen Konflikt. Im wahrsten Sinne des Wortes würde ich mich also als Adventistin bezeichnen, auch wenn ich mit einigen Details Schwierigkeiten habe. Es stört mich auch, dass Frauen keine Pastorinnen werden können bei uns.
Was die Vorschriften zu Ernährung und Alkohol betrifft, da bin ich eher locker mittlerweile – ich mäßige zum Beispiel immerhin meinen Fleischkonsum. Aber ich brauche auch gerade eine Auszeit von Regeln. Gerade sind andere Sachen dran.
Dadurch, dass ich es immer sehr eng hatte und es mir selbst auch immer sehr eng gemacht habe, war es wichtig, mich erst einmal von vielem fernzuhalten und freizumachen, was mich so eingeschränkt hat. So war es auch möglich, nicht alles fallenzulassen, zum Beispiel meinen Bezug zum Adventismus.
Du hast also trotz allem so viel Positives mitbekommen oder mitgenommen, so dass dein Glaube nicht erschüttert wurde?
Ja. Aber ich hatte schon sehr schwierige Zeiten dort. Das schon.
Du hast dich jetzt in einer anderen christlichen Gemeinde engagiert, der MCC (Metropolitan Community Church). Das ist auch eine freie Gemeinde, aber eine sehr offene, queer-positive. Wie erlebst du es dort?
Ich kam über eine Freundin dort hin, mit ihr wollte ich das gern zusammen machen. Und was mir gut tut ist, dass dort mein Transsein kein Thema ist. Wir haben viele wichtige Themen, aber wir sind dort alle queer. Christ_innen sind grundsätzlich konservativ. Selbst die liberalste christliche Kirche ist trotzdem konservativ. Und in der MCC ist Queersein in jeglicher Form kein Thema, das wir diskutieren müssen – etwa, ob es vereinbar ist mit christlichem Glauben. Das ist sehr angenehm und entspannt. Wir können uns dadurch mit vielen spannenden theologischen Themen beschäftigen und gemeinsam Spiritualität leben. Und ich komme langsam da hin, dass ich mich als trans Person in Bibeltexten wiederfinde und angenommen fühle, da unsere Predigten auch darauf ausgerichtet sind. Das ist wichtig.
Das ist schön. Was ist dir sonst wichtig an dem Punkt, an dem du gerade mit dir stehst?
Authentizität. Ich wollte immer dem Transsein entkommen. Ich habe einem Bild von mir nachgejagt, das einfach nicht existiert. Deshalb ist es jetzt für mich das Wichtigste, mich in meiner Identität zu festigen. Herauszufinden wer ich bin. Mich mit der Person auseinandersetzen, die ich bin, wenn alle Illusionen weg sind. Und das hat viele Aspekte. Dazu gehört mein Gender, aber nicht nur. Es gehören auch meine Emotionen dazu, Beziehungen, Freundschaften, die ich nun anders erlebe, neu erlebe, weil sich die Vorzeichen geändert haben. Das ist sehr schön, aber auch sehr anstrengend. Es hat sich einfach viel verändert!
Danke herzlich, liebe Linda, für das spannende Interview!
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* Name von der Redaktion geändert.