Seit fast einem Jahr leben Menschen weltweit mit der Covid-19-Pandemie. Die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Folgen sind gigantisch. Menschen arbeiten in Kurzarbeit, oder haben ihre Jobs verloren. Viele 'Gewerbetreibende, die Tourismusbranche, Kunst-, Musik,- Theater- und Kulturbranche und Tausende Selbstständige fürchten um ihre Existenz oder haben sie teilweise schon verloren. Dazu gehören auch diejenigen, die in Cafés, Bars und Restaurants arbeiten. Genau dort sind auch wichtige Treffpunkte für queere Menschen. In Szenelokalen und queer freundlichen Bars und Cafés treffen sie sich mit Gleichgesinnten und fühlen sich dort sicher. Dass diese Orte zum Teil schon seit langem geschlossen sind, hat dramatische Auswirkungen. Rainer Hörmann hat darüber im November hier auf kreuz & queer bereits eindringlich berichtet.
Seit Februar 2020 bin ich Hochschulseelsorgerin der Evangelischen Studierendengemeinde (ESG) in Mainz. Im März kam der erste Lockdown. Seitdem habe ich zahlreiche Seelsorge- und Beratungsgespräche mit jungen Studierenden geführt. Viele befinden sich in finanziellen Nöten, da die Nebenjobs in Bars und Kneipen weggebrochen sind, andere vereinsamen und wieder andere schaffen es nicht, ihr Studium und ihr Alltagsleben zu strukturieren, wenn gleichzeitig das Studium nur digital abläuft. Auffallend viele von den Seelsorgesuchenden bezeichnen sich außerdem als nicht heterosexuell, nicht binär oder queer im Hinblick auf ihre Geschlechtsidentität oder ihre sexuelle Orientierung. Sie stresst die Situation in der Covid-19-Pandemie in mehrfacher Weise.
Klar, die emotionale Belastung ist für alle Menschen seit Monaten enorm. Menschen aus Minderheiten leiden aber nochmal besonders unter der Pandemie-Situation. Der amerikanische Forscher Ilan H. Meyer verweist auf das so genannte „Minderheitenstressmodell“ (zitiert nach Bachmann, Anne u.a., Lebenssituationen und Diskriminierungserfahrungen schwuler und bisexueller Männer. Eine Studie des Instituts für Psychologie der Christian-AlbrechtsUniversität zu Kiel, 2003, S. 13). Es besagt, dass Minderheiten und Angehörige von stigmatisierten Gruppen vermehrtem Stress aufgrund ihrer Minderheitenposition ausgesetzt sind. Das gilt auch zu normalen Zeiten. Dieser Stress ist zudem nicht nur ein situativer Stress, sondern einer, der viele ein Leben lang quält. Gewisse Stress- und Angstzustände können sich somit chronifizieren und die Lebensqualität der Betroffenen enorm einschränken.
Oft fehlt auch ein unterstützendes familiäres und freundschaftliches Umfeld, das in Krisenzeiten liebevoll unterstützend zur Seite stehen könnte. Orientierungslosigkeit und Isolation sind die Folgen. In Zeiten von sozialer Distanzierung und Lockdown verschärft sich die Situation dramatisch. Häufig wird der Stress dann nach innen gerichtet und zeigt sich in starker Verunsicherung bis hin zur verinnerlichten Homo- und/oder Transphobie. In solchen Fällen wirkt sich verinnerlichte Scham und Abscheu negativ auf das eigene Selbstbild aus. Es kann autoaggressive Folgen bis hin zu Selbsthass haben. Überhöhter Substanzkonsum, andere Suchtformen, psychische Erkrankungen bis hin zu Suizid können daraus folgen.
Wer unsicher ist hinsichtlich der eigenen Identität, der sexuellen Orientierung oder sozialen Zugehörigkeit und Angst vor den Reaktionen anderer hat, ist extrem verletzlich. Diese Menschen sind auch unter gewöhnlichen Alltagsbedingungen gefährdet, suchtkrank oder autoaggressiv zu werden oder zu vereinsamen. Unter den Bedingungen des sozialen Lockdowns weitet sich diese Risikosituation aus. Da hilft es auch nicht, dass über Weihnachten Lockdown-Bestimmungen erlassen wurden, die besagen, dass sich nur nahe Familienangehörige in geringer Zahl treffen dürfen. Familienangehörige sind für viele queere Menschen aber oftmals genau das Problem. Sie brauchen ihre Peergruppe und Freund*innen und nicht Familienangehörige, die an ihnen herummäkeln, sie verändern oder moralisieren wollen. Im Hinblick auf die Lebenssituation von queeren Menschen haben politische Verantwortliche immer noch viel zu wenig dazu gelernt. Das ist bitter.
Insofern ist es enorm wichtig, dass Seelsorger*innen, Berater*innen in psychosozialen Einrichtungen und Therapeut*innen queersensible Beratungsangebote machen. Das heißt: Die Verantwortlichen sind sich der mehrfachen Stressbelastung von Minderheiten im allgemeinen und von queeren Menschen im Besonderen bewusst. Sie nehmen ihre Belange ernst, respektieren sie, so wie sie sind, begleiten sie professionell und überweisen sie gegebenenfalls an Beratungsstellen, die schwerpunktmäßig mit queeren Menschen zusammen arbeiten.
In Mainz beispielsweise werden Beratungen für queere Menschen von einem Beratungsteam in der „Bar jeder Sicht“ angeboten. Beratungsthemen sind: Coming out, sexuelle und geschlechtliche Identität, Kinderwunsch und Regenbogenfamilien, Probleme im sozialen Umfeld (Eltern, Schule, Freundeskreis, Arbeits- und Ausbildungsplatz), Diskriminierung, Mobbing, Lebenskrisen, LSBT*I im Alter, Liebe, Sexualität, Paar- und Beziehungskonflikte, Hinweise auf weitere Beratungs- und Therapiemöglichkeiten sowie auf Selbsthilfegruppen. Auch in vielen anderen Städten gibt es besondere Anlaufstellen für queere Menschen.
In verschiedenen evangelischen Landeskirchen gibt es darüber hinaus offen lebende lesbische, schwule, bi oder trans* Geistliche oder kirchliche Mitarbeitende, die besonders qualifiziert sind für Seelsorge und Beratung mit queeren Menschen. In der Landeskirche Hannovers gibt es ab Januar 2021 sogar eine explizite Beauftragung eines Pfarrers für queere Seelsorge.
Für Studierende sind die Evangelischen und Katholischen Hochschulgemeinden (ESG und KHG) gute Anlaufstellen.
In der ESG Mainz beispielsweise wird eine queersensible inklusive Seelsorge explizit angeboten.
In der katholischen Kirche gibt es in vielen Diözesen so genannte Anlaufstellen für Homosexuellenpastoral. Siehe als Grundlagentext dazu: „Den Menschen sehen.“ Pastoral mit homosexuellen Frauen und Männern im Erzbistum Freiburg (12.09.2019).
Alle diese Angebote zeigen eines sehr deutlich: Queere Menschen brauchen ihre Netzwerke und geschützte Räume und Zeiten als Anlaufstellen für eine queersensible Beratung und Seelsorge, in denen sie so angenommen und respektiert werden, wie sie sind.
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