Intimität und Distanz in Zeiten von Corona
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Katharina Payk im Gespräch mit Barbara Rothmüller und Emelie Rack über Beziehungen und Sexualität während des Corona-Lockdowns

Katharina Payk: Im April haben Sie mehrere Tausend Personen in Österreich und Deutschland zum Thema Intimität und soziale Beziehungen während der COVID-Ausgangsbeschränkungen befragt. Was sind die wichtigsten Ergebnisse der Studie?

Barbara Rothmüller: Die Kontaktbeschränkungen haben im April bereits zu teils massiven Veränderungen sozialer und intimer Beziehungen geführt, aber die Veränderungen waren sehr unterschiedlich. Während die einen große Angst hatten, dass ihre intimen Beziehungen auseinander brechen, haben andere ihre romantische Zweierbeziehung und die gemeinsame Zeit mit ihren Liebsten genossen, andere waren extrem einsam oder hatten Konflikte im Haushalt und fanden die Zeit unerträglich. Im April waren generell sehr viele Menschen sehr berührungshungrig: Singles, aber auch gestresste Eltern, die keine Zeit für Intimität fanden, Personen, bei denen die Paarbeziehung nicht gut war und die im Lockdown von dem_r Partner_in keine Nähe bekommen konnten, oder Freund_innen, die sich umarmen wollten und nicht konnten. Sehr viele haben schon zu Beginn stark verinnerlicht, dass Menschen sich nicht zu nahe kommen dürfen, im öffentlichen Raum, aber auch in Filmen zum Beispiel! Das zeigt, wie schnell das neue Nähe-Distanz-Gefühl verinnerlicht wurde.

K.P.: Hatten Paare in der Zeit der Ausgangsbeschränkungen eher mehr Sex miteinander oder war der Lockdown ein Lustkiller?

B.R.: Das kann man so allgemein nicht sagen. Menschen reagieren sehr unterschiedlich auf Stress. Für manche Menschen funktioniert es nämlich ganz gut, sich von stressigen Situationen wie eben einer Pandemie mit Sex abzulenken. Menschen, die Aufregung mögen und neue Erfahrungen anturnend finden, waren im April erstmal nicht so glücklich, weil es wenig Möglichkeiten gab. Das hat sich aber rasch geändert, weil diese Menschen oft begonnen haben, anderweitig sexuell neue Sachen auszuprobieren, zu experimentieren.

Emelie Rack: Durch die enorme Veränderung des Alltags vieler Menschen im April hat sich Raum für Neues aufgetan. So haben manche Personen auf Datingapps gezielt Ausschau gehalten nach Menschen über nationale und internationale Ländergrenzen hinweg, um sich auszutauschen und so neue Erfahrungen sammeln zu können.

B.R.: Und dann gab es Menschen, bei denen hat der Stress oder teilweise auch die Distanzlosigkeit in der Paarbeziehung recht schnell dazu geführt, dass sie gar keine Lust mehr auf Sex hatten. Das hat sich mittlerweile wieder verändert.

K.P.: Gab es in der Reduktion oder Veränderung der sozialen und intimen Kontakte Unterschiede zwischen den Geschlechtern?

B.R: Ja, in meiner Forschung ist sichtbar geworden, dass Frauen sich stärker um soziale Kontakte bemühen, bzw. kümmern müssen und sich auch angesprochen fühlen, wenn es jemandem nicht gut geht. Interessanterweise hat auch hier die Pandemie eine neue Dimension der psychosozialen Betätigung von Frauen eröffnet, nämlich im Berufsfeld. Frauen haben nicht nur im Freundeskreis und in der Familie, sondern auch in ihrer Erwerbsarbeit psychosoziale Unterstützung geleistet – für Kolleg_innen, für Kund_innen bzw. Klient_innen, aber überraschenderweise auch für Vorgesetzte. Da hat die Pandemie auch berufliche Distanz verringert.

Männer fühlen sich da offenbar nicht so zuständig bzw. werden auch gar nicht so adressiert, wenn man psychische oder soziale Probleme hat. Da reden die Menschen oft lieber mit ihrer Kollegin als mit ihrem Kollegen. In dieser unterschiedlichen Care-Arbeit zeigt sich dann auch wie Frauen als Stoßdämpfer die Folgen eines so umfassenden gesellschaftlichen Umbruchs emotional abfedern, im Freundeskreis, in der Familie, aber auch im Beruf.

Nicht-binäre Personen waren oft in ihrer Community und im Freundeskreis stark gefordert und haben hier viel Unterstützungsarbeit geleistet. In der männerdominierten Politik hat man über die psychosoziale Dimension des Lockdowns zu Beginn aber offenbar nicht so viel nachgedacht… Frauen und nicht-binäre Personen schon! Weil sie ganz unmittelbar mit den Auswirkungen konfrontiert wurden.

K.P.: Gab es Personengruppen, die sich in der Auslebung von Intimität und Beziehung(en) besonders eingeschränkt gefühlt haben? Ich denke etwa an Teile der schwulen Community, die sich des (oft unverbindlichen) Online-Datings und Cruisings bedienen oder solche, für die Dating und Partner_innensuche allgemein mit mehr Hürden verbunden sind, wie etwa trans Menschen oder Menschen mit Behinderungen?

B.R.: Genau, es waren vor allem Menschen, die vor den Ausgangsbeschränkungen unverbindliche Sexpartner_innen hatten, die in großem Umfang ihre sexuellen Routinen verändert haben. Cruising, aber auch Parties und Playdates, Workshops, auch Sexarbeit, das hat ja alles stillstehen müssen.

E.R.: Übergreifend hat sich gezeigt, dass die Reduktion oder Veränderung der sozialen und intimen Kontakte von mehreren ineinandergreifenden Faktoren, wie bspw. dem Beziehungsstatus, des Geschlechts und der sexuellen Orientierung abhing. Aber allgemein lässt sich schon sagen, dass viele Events oder Treffpunkte, deren erklärtes Ziel es gerade ist, Menschen miteinander zu connecten, abgesagt wurden. Wobei es beeindruckend war zu sehen, wie schnell und engagiert digitale Alternativen der Vernetzung geschaffen wurden oder bereits bestehende Konzepte in Online-Sphären verlagert wurden. Aber natürlich war der Lockdown nichtsdestotrotz für viele mit erheblichen Einschränkungen des sexuellen Lebens verbunden. So hat beispielsweise ein Drittel der Menschen mit unverbindlichen sexuellen Kontakten eine Einladung zum Sex in der Pandemie abgelehnt. Tatsächlich gaben auch schwule Männer in der Studie am häufigsten an, dass sich ihre intimen Beziehungen in der Pandemie stark distanziert haben, für jeden vierten Befragten war das der Fall. Und ganz generell wurde eine starke sexuelle Selbstbeschränkung innerhalb des LGBTIQ-Spektrums sichtbar: Homo-, bi- und pansexuelle Männer sowie kinky und queere Männer haben häufiger ihre sexuellen Kontakte reduziert als heterosexuelle Männer. Das ist schon eine große Sache, wenn wir uns dabei vor Augen halten, dass viele eigentlich von einem gesteigerten Bedürfnis nach Nähe, Intimität und Körperkontakt während des Lockdowns berichtet haben. In diesem Kontext sehen wir die Ablehnung einer Einladung zum Sex schon auch als Beitrag zur gesellschaftlichen Krankheitsprävention.

B.R.: Auch Onlinedating haben viele so gut wie nicht genutzt, bzw. wenn dann eher, um eine eine_n „Corona-Partner_in“ auf Zeit zu finden. Darauf haben vor allem heterosexuelle Befragte gehofft, die auf Partner_innensuche waren; es hat aber für viele nicht geklappt. Obwohl es auch Menschen gab, die spontan mit einem Date zusammengezogen sind und sich gemeinsam eine gute Zeit gemacht haben. Auch polyamore Menschen waren mit der Umsetzung der Kontaktbeschränkungen beschäftigt, weil diese ja nur Kontakt zu Personen im Haushalt vorgesehen haben. Aber selten wohnen Menschen in offenen bzw. nicht monogamen Beziehungen mit allen Partner_innen in einem großen Haushalt.

Das alles zusammen führt tendenziell zu einer Monogamisierung oder vielleicht besser Re-Monogamisierung intimer Beziehungen – bevor die vielfältigen Formen sexueller und romantischer Beziehungen überhaupt in der öffentlichen Wahrnehmung angekommen sind. Es hat sich auf jeden Fall erstmal die Verbindlichkeit sexueller und romantischer Beziehungen für viele Menschen erhöht, was ja auch Sinn macht, wenn man möglichst risikoarm und fürsorglich in der Pandemiezeit ein lustvolles Leben führen will. Und die Menschen haben sich ihre Wege gesucht, Intimität und Sexualität unter Bedingungen einer Pandemie zu leben. Für einige hat der Lockdown nämlich auch die Voraussetzungen geschaffen, um intime Beziehungen zu vertiefen.

K.P.: Soziale Nähe – da denke ich auch an religiöse Gemeinschaften. Waren religiöse Zugehörigkeit oder Spiritualität auch ein Thema in der Befragung?

B.R.: Zu Religion gab es keine konkrete Frage, leider. Aber vielleicht passt an dieser Stelle die Erwähnung ehrenamtlichen Engagements und Nachbarschaftshilfe gut. Es wurde gegenseitig sehr viel Unterstützung geleistet, insbesondere nicht-binäre Personen fielen hier positiv auf und waren sehr gefordert. Sehr viele Menschen im Lockdown waren solidarisch miteinander.

K.P.: Seit der Corona-Pandemie sind Plattformen, Webseiten und Tools zu Online-Sexualität noch beliebter geworden. Nicht immer treffen User_innen (genügend) Sicherheitsvorkehrungen, um ihre Daten und Persönlichkeitsrechte zu schützen.

E.R.: Von den 4706 Personen, die den Fragebogen vollständig beantwortet haben, hat ein Drittel zumindest eine Form von Cybersex (Sexting, Verschicken von Nacktbildern, Videotelefonate, Live Sex-Camming, Teilnahme an Online-Workshops etc.) während der Pandemie praktiziert. Wir sprechen da also wirklich von einer Großzahl an Menschen, die Cybersex in ihr Sexleben inkorporiert hat! Und interessanterweise obwohl die generelle Nutzung von Online-Dating während des Lockdowns eher zurückgegangen ist. Allerdings haben nur wenige auf ihre digitale Sicherheit während ihrer Cybersex-Praktiken geachtet. Deswegen ist es uns so wichtig, auf das Thema hinzuweisen, um Cybersex sicherer zu gestalten.

Spannenderweise haben homo-, bi- und pansexuelle, sowie queer und kinky Teilnehmende viel mehr auch über die Anwendung von Sicherheitsvorkehrungen beim Cybersex berichtet. Besonders auf klare Vereinbarungen, das Benutzen anonymer Pseudonyme, die Geheimhaltung des eigenen Aufenthaltsortes sowie technische Kompetenz für die End-to-end-Verschlüsselung legten sie viel Wert und bedachten eine aktive Firewall. Auch mit den Möglichkeiten und Herausforderungen von Cybersex wurde gespielt, bspw. durch die Verwendung von Kostümen oder das Spiel mit Licht und Schatten oder die Verwendung einer Zoom-Funktion bei der Aufnahme von graphischem Material.

K.P.: Wie erklären Sie sich diese große Kompetenz der queeren und BDSM-Communitys?

B.R.: Bei safer Cybersex ist ja nicht nur technisches Wissen wichtig. Ich denke, dass in sexuellen Communities viele Praktiken der Intimität entwickelt und vermittelt werden, die auch für safer Cybersex relevant sind, zum Beispiel die Kommunikation über Sexualität und Lust, ein Gespür für Grenzen, und Konventionen, wie man (nicht) mit sexueller Aufregung umgeht. Auch wenn natürlich nicht alle Menschen in sexuellen Communities das so gut können, aber es gibt sexuelle (Sub-)Kulturen, in denen ausdifferenziertes Wissen, Praktiken und Konventionen zirkulieren, auch im internationalen Austausch. Und das lässt sich auf neue Erfahrungen wie Cybersex übertragen.

E.R.: Unsere Vermutungen für die Gründe decken sich auch mit anderen Studien zu den Chancen und positiven Aspekten von Cybersex: Auf der Suche nach alternativen Wegen abseits der heterosexuell ausgerichteten Mehrheitsgesellschaft bestehen online viele Möglichkeiten, sich unabhängig von dem jeweiligen lokalen Lebensmittelpunkt mit anderen zu vernetzen und auszutauschen. Eben auch über Sexualität. Lange Zeit wurde Online-Sexualität nachgesagt, dass es sich dabei um sexuelles Risikoverhalten handeln würde. Dabei praktizieren so viele Menschen in irgendeiner Art und Weise Cybersex, dass es hier dringend auch neue, wertschätzende Perspektiven darauf braucht. Schließlich gibt es nachgewiesen auch Hinweise darauf, dass Online- oder Cyber-Sexualität auch einige Vorteile bietet und gewissermaßen auch einen safe space darstellt. So kann Cybersex bspw. auch zur Erkundung und dem Experimentieren mit der eigenen Sexualität und der eigenen Verführungskompetenz herangezogen werden. Im Bereich der (digital vermittelten) Sexualität stellt sich natürlich immer die Frage, ab wann von „genügenden“ oder „ausreichenden“ Sicherheitsvorkehrungen gesprochen werden kann um sogenannten safe(r) sex zu praktizieren. Bei Sexualität geht es oft um ein Abwägen von Lust und Risikobewusstsein. Relevant ist natürlich auch ein bekannter und vertrauter Umgang mit den technischen Endgeräten. Wenn ich mich in der Anwendung und Nutzung sicher fühle und auskenne, werde ich vermutlich auch meine Sexualität damit gleich ganz anders gestalten können.

K.P.: Um Menschen in der Einhaltung digitaler Sicherheit zu unterstützen haben Sie zusammen mit Anna Maria Diem und Sophie König einen „Safe(r) Cyber Sex Guide“ herausgegeben. Was sind die wichtigsten Vorkehrungen, die man treffen sollte, wenn man online flirtet, datet oder Sexualität lebt?

E.R: Die wichtigste Vorkehrung ist, sich im Vorhinein über mögliche Vorsichtsmaßnahmen bei der gelebten Online-Sexualität Gedanken zu machen. Generell lässt sich als Absicherung empfehlen, dass man sich überlegen sollte, ob die geteilten Inhalte anderen Menschen Rückschlüsse auf die eigene Person erlauben oder nicht. Wenn das nicht gewollt wird, und es gibt viele Gründe das nicht zu wollen, kann bspw. ein neutraler Hintergrund und ein Bildausschnitt ohne Gesicht, Tattoos etc. gewählt werden – um die eigene Wiedererkennbarkeit zu minimieren und sich damit bspw. im Falle einer ungewollten Weiterverbreitung etwas abzusichern. Viele in unserer Studie haben sich auch dadurch geschützt, dass sie nur Personen in ihre Cybersex-Praktiken involviert haben, die sie bereits persönlich kannten oder indem sie sich auch im Falle einer Grenzüberschreitung Hilfe und Unterstützung geholt haben. Auch das Wissen über das Recht am eigenen Bild kann schon helfen, nicht die Schuld bei sich selbst zu suchen.

Es ist wichtig, auf das eigene Gespür zu vertrauen und auch gemischte Gefühle ernst zu nehmen. In unsrem Guide sind nur Vorschläge zur Reflexion und mögliche Anstöße für einen Austausch, wie Sexualität digital gelebt werden kann – insofern man das will. So werden alle Überlegungen natürlich auch von der Frage begleitet, ob ich überhaupt Interesse und Lust daran habe, meine Sexualität (auch) online auszuleben. Und wenn ja, mit was ich, oder wir, uns wohl fühlen – und mit was eben nicht.

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Bericht der Zwischenergebnisse der Studie:

http://barbararothmueller.net/rothmueller2020zwischenberichtCOVID19.pdf

Safer Cyber Sex Guide 2020:

http://barbararothmueller.net/SaferCybersexGuide.pdf

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Zu den interviewten Personen:

Barbara Rothmüller ist Soziologin, Sexualpädagogin und Social Justice Trainerin. Sie arbeitet als Post Doc/wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungsprojekt „The psychological is political“ im Team von Nora Ruck an der Sigmund Freud Universität Wien. Sie leitet die Studie zu „Liebe, Intimität und Sexualität in Zeiten von COVID-19“.

Emelie Rack ist gerade dabei, ihren Master in Psychologie in Wien abzuschließen, studiert vergleichende Literaturwissenschaften und ist Sexualpädagogin. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in dem von Barbara Rothmüller geleiteten Forschungsprojekt „Liebe, Intimität und Sexualität in Zeiten von COVID-19“.

 

(Das Interview wurde in gekürzter Fassung in an.schläge VI/20 veröffentlicht.)