Coming Out und Heilung
Dieter Schütz, pixelio.de
Coming-Out-Erfahrungen in der Bibel? Die Geschichte von der Heilung des Blindgeborenen (Joh 9) kann durchaus so gelesen werden, meint Wolfgang Schürger.

Der Predigttext des vorletzten Sonntags hat mich daran erinnert, dass ein inzwischen schon verstorbener Freund vor vielen Jahren einmal Coming-Out-Geschichten in der Bibel gesammelt hat. Auch die Heilung des Blindgeborenen im neunten Kapitel des Johannes-Evangeliums gehörte da dazu. Dass er ausgerechnet eine Heilungsgeschichte als Coming-Out-Geschichte bezeichnet, hat ihm damals viel Kritik eingebracht. Schließlich haben viele christlichen Queers ja eine sehr schmerzliche Erfahrung mit dem Thema "Heilung": Evangelikal-konservative-charismatische Gruppen versuchten (und versuchen immer noch) die Heilung nicht heteronormativer sexueller Orientierung.

Wer hat gesündigt?

Die Frage der Jünger angesichts des Blindgeborenen entspricht der Haltung solch konservativer christlicher Gruppierungen: "Wer hat gesündigt: dieser oder seine Eltern, dass er so geboren wurde?" Jesus weist diese Frage zurück - und liefert damit einen ersten Hinweis darauf, dass die Geschichte viel mehr ist als "nur" eine Heilungsgeschichte. Dieses "mehr" erschließt sich freilich nur, wenn man über die Abgrenzung des Predigttextes vom 8. Sonntag nach Trinitatis hinaus geht und das gesamte neute Kapitel des Johannes-Evangeliums liest.

Der Blindgeborene ist in vielfacher Weise von seiner Umgebung abhängig: Zunächst natürlich von seiner Familie, bei der er wohnt und von der ihn Tag für Tag jemand zu seinem Platz in der Stadt begleitet und auch wieder abholt. Dann aber auch von den Menschen, denen er dort, wo er sitzt, täglich begegnet: Von ihnen erhält er nicht nur Almosen, sondern auch Informationen darüber, was so alles vorgeht in der großen weiten Welt. Im Verlauf der Geschichte zeigt sich, dass er durchaus weiß, wer Jesus ist und was die Leute von ihm erzählen. Anders als andere Kranke und Leidende in den Evangelien geht er aber nicht aktiv auf Jesus zu. Er scheint sich vielmehr eingerichtet zu haben in dieser Situation, in der er schon so lange lebt. Wir könnten - mit Blick auf die Coming-Out-Erfahrungen - also durchaus von einem unfreiwilligen Outing sprechen, dessen Auslöser die theologische Borniertheit der Jünger ist.

Heilung, Coming-Out und selbstbewusstes Leben

Durch das heilende Handeln Jesu wird aus diesem Mann, der sich in seiner Situation der Abhängigkeit irgendwie eingerichtet zu haben scheint, ein selbständiger Mensch, der seine Selbständigkeit schon bald mit einem gewissen Selbstbewusstsein beweisen muss: Die religiösen Autoritäten sollen den Erfolg der Heilung bestätigen. Auf Jesus sind sie nicht gut zu sprechen, und außerdem ist Sabbat, da kann so ein göttliches, ein Leben veränderndes Handeln doch gar nicht möglich sein!

Einige der Menschen, die den Mann seit vielen Jahren kannten, zweifeln daher daran, dass er überhaupt der Blindgeborene sei, halten ihn für einen Lügner. Auch die Pharisäer wollen sehr genau wissen, was vorgefallen ist. Der Mann erzählt ihnen alles - und erntet doch nur Unverständnis.

Die Eltern sollen schließlich als Gewährsleute dafür dienen, dass der ehemals Blinde kein Heuchler ist. Irritiert sind sicher auch sie, vielleicht sogar betroffen, da nun natürlich die Almosen im Familienhaushalt fehlen, die der Mann sonst Tag für Tag gesammelt hat. Doch immerhin: Sie stehen zu ihrem Sohn, bestätigen, dass dieser Mann vor ihnen ihr blindgeborenes Kind ist. Die Verantwortung für alles, was geschehen ist, geben sie aber an ihn weiter: "Fragt ihn doch selber, er ist alt genug!"

Der, der bis dahin stets auf die Unterstützung anderer angewiesen war, steht nun also zum zweiten Mal allein vor den Pharisäern - und tritt mit einem Selbstbewusstsein auf, das deutlich macht, dass die Verherrlichung Gottes, von der Jesus spricht, in dieser Geschichte viel mehr bedeutet als nur das Augenlicht zu gewinnen.

Der Mann nämlich ist es, der schließlich den religiösen Autoritäten theologisch erklärt, warum Jesus kein Scharlatan, sondern nur der Sohn Gottes sein könne: "Von Anbeginn der Welt an hat man nicht gehört, dass jemand einem Blindgeborenen die Augen aufgetan hat. Wäre dieser nicht von Gott, er könnte nichts tun." (Joh 9,32f).

Kein Wunder, dass am Ende der Geschichte der Ausschluss des selbstbewusst gewordenen Mannes aus der religiösen Gemeinschaft steht!

... auf dass die Herrlichkeit Gottes offenbar werde!

Das Coming-Out des Blindgeborenen, das ist in diesem Fall der Weg aus einem Leben in vielfältigen Abhängigkeiten, mit dem der Mann sich aber irgendwie arrangiert hat, in ein selbständiges und selbstbewusstes Leben - für das er neue Ausgrenzung erleiden muss.

Und damit ergeben sich eben doch viele Parallelen zu queeren Coming-Out-Geschichten:

In einer jeden und einem jeden von uns wird die Herrlichkeit Gottes offenbar - diese Überzeugung trägt uns als queere Christ*innen in unserem Coming-Out und darüber hinaus. Doch nicht alle können akzeptieren, dass diejenigen, die anders als heteronormativ leben, geliebte Kinder Gottes sind. "Wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern?", die Frage kennen wir aus unseren Coming-Out-Geschichten - und manchmal ist es auch die Frage unserer Eltern selbst: "Was haben wir falsch gemacht, dass du SO geworden bist?" Nein, es geht im Coming-Out nicht um Sünde und Schuld, es geht darum, dass die Herrlichkeit Gottes offenbar wird.

Mit dem Coming-Out verändert sich der soziale Zusammenhalt: Wir hören in der Geschichte vor allem von Menschen, die dem Mann skeptisch begegnen. Sicher gab es auch die anderen, die sich darüber gefreut und ihn beglückwünscht haben, dass er nun die Welt mit eigenen Augen sehen kann. In der Gemeinschaft der Jüngerinnen und Jünger Jesu findet der Mann schließlich ein neues soziales Umfeld, in dem er zu Hause sein kann.

Und die Familie? Sie braucht Zeit, um mit der Veränderung zurecht zu kommen und sich den Anfragen der Nachbarn und Pharisäer zu stellen. Vater und Mutter stehen zu ihrem Sohn, das wird in ihrem Bekenntnis vor den Pharisäern deutlich. Ihr Hinweis auf die Eigenverantwortung des Kindes kann freilich in zwei Richtungen interpretiert werden: Einerseits als vorsichtige Distanzierung ("Fragt ihn doch selbst!"), andererseits aber auch als Anerkennung der neu gewonnenen Selbständigkeit ihres Sohnes.

Coming-Out-Prozesse so verschieden sie sein mögen: Sie führen zu selbstbewussten, lebensfrohen Menschen, in denen die Herrlichkeit Gottes offenbar ist. Gottes Vielfalt  inmitten des Lebens.