Juni ist traditionell der „Pride Month“, also der Monat, der die jährlichen Christopher-Street-Day-(CSD-) Paraden weltweit eröffnet. Denn am 28. Juni 1969 wehrten sich erstmals vor allem queere schwarze und farbige Trans*-Personen, Schwule und Lesben gegen trans*- und homofeindliche Polizeirazzien und Polizeigewalt außerhalb der Bar des Stonewall Inns in New York City.
In diesem Jahr ist wegen der COVID-19-Pandemie allerdings alles anders. Die meisten CSD-Paraden wurden abgesagt oder in den digitalen Raum verlegt. Dennoch hören die Gründe nicht auf, warum es jedes Jahr neu wichtig ist, auf die teilweise prekäre und lebensgefährliche Situation vieler LSBTIQ*-Personen weltweit aufmerksam zu machen und ihre Lebensgeschichten nicht zu vergessen.
Ich möchte meinen Blogeintrag in diesem Monat nutzen, um auf einen tragischen Todesfall hinzuweisen, der mir in diesem Monat besonders nahe gegangen ist: Der Tod von Sarah Hegazi aus Ägypten. Ich werde ihre Geschichten erzählen. Als Zeichen dafür, dass sie nicht vergessen ist und dass das Unrecht, das gegen sie verübt wurde, benannt und beendet werden muss.
Sarah Hegazi war eine ägyptische LGBTIQ*-Aktivistin aus Ägypten. Sie wurde im September 2017 verhaftet und gefoltert, nachdem sie bei einem überfüllten Konzert der progressiven libanesischen Indie-Band „Mashrou 'Leila“, deren Frontmann offen schwul ist, in Kairo am 22. September 2017 die Regenbogenfahne gehisst hatte. Die anschließende Verhaftung von über 70 Konzertbesucher*innen war Ägyptens größte Verhaftungswelle gegen die LGBTIQ*-Community in den letzten Jahren.
Hegazi wurde eine Woche nach dem Konzert zu Hause von einer Gruppe bewaffneter Sicherheitskräfte festgenommen.
"Sie kamen wie eine Streitmacht. Es war eine große Anzahl von Offizieren mit Waffen, die kamen, um eine Frau zu holen", sagte sie 2018 gegenüber der Deutschen Welle.
Von allen Inhaftierten waren die damals 28-jährige Hegazi und der 21-jährige Ahmed Alaa den schwersten Anklagen ausgesetzt.
Sie wurden beide beschuldigt, "einer illegalen Gruppe zuzugehören und ihre Ideen zu fördern". Die zusätzliche Anklage wegen "Förderung der sexuellen Abweichung und Ausschweifung" wurde speziell gegen Hegazi erhoben. In einem Interview von 2018 sagte Hegazi, dass der Staat sie als Kriminelle betrachte, die die moralische Struktur der Gesellschaft zerstören wolle.
Die Behörden der zuständigen Polizeistation stifteten andere weibliche Häftlinge an, sie zu schlagen. Hegazi verbrachte drei Monate in einem Frauengefängnis und wartete auf den Prozess. Sie wurde über eine Woche lang in Isolationshaft gehalten. Danach wurde den anderen Insaßen befohlen, nicht mit ihr zu sprechen. Hegazi wurde außerdem mit Stromschlägen gefoltert.
Nach ihrer Freilassung gegen Kaution wurde bei Hegazi eine schwere Depression diagnostiziert. Sie litt an einer schweren posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS). Hegazi und Alaa flohen jeweils nach Kanada. Dort wurde ihnen Asyl gewährt. Beide zogen nach Toronto.
Hegazi betonte mehrfach, ihre Entscheidung, im konservativen Ägypten die Flagge zu hissen, sei ein Akt der Unterstützung und Solidarität - nicht nur mit der Gruppe Mashrou' Leila sondern mit allen Unterdrückten gewesen.
"Ich habe es wegen meiner Sexualität getan", sagte sie der Deutschen Welle.
"Ich habe mich in einer Gesellschaft erklärt, die alles hasst, was sich von der Norm unterscheidet."
Ägypten kriminalisiert queere Menschen nicht offiziell. Sie haben LSBTIQ* Personen jedoch immer wieder wegen angebliche Verstößen gegen Moralgesetze verfolgt. Sie nehmen willkürliche Verhaftungen vor, erzwingen Analuntersuchungen, Isolationshaft und setzen auch andere Foltermethoden ein.
Was die Deutsche Welle zur Situation von LSBTIQ* in Ägypten schreibt:
Die Menschenrechtsorganisation "African Human Rights Media Network" (AHRMN) hat für das Jahr 2019 insgesamt 65 Verfolgungsakte gegen LGBT in Ägypten dokumentiert. Dabei wurden insgesamt 92 Personen verhaftet. Demnach wurden einige über einschlägige Dating-Apps in eine Falle gelockt, 47 Personen wurden auf offener Straße, acht in Häusern oder Hotels festgenommen.
Die Menschenrechtsorganisation sieht die Verhaftungen im Kontext eines generell aggressiven Vorgehens der Regierung unter Präsident Abdel Fattah al-Sisi gegen friedliche Demonstranten. "Dieser aggressive Ansatz" richte sich auch gegen Personen aus der LGBT-Gemeinschaft. "Verhaftungsszenarien und anschließende Strafverfolgungsverfahren liefen während der vergangenen Jahre auf die gleiche Weise und mit neuen Techniken ab", heißt es in der im März 2020 veröffentlichten Dokumentation.“
Sarah Hegazi beendete am 14. Juni 2020 ihr Leben, weil sie Folter, Hass und Anfeindungen sowohl im Gefängnis als auch danach nicht mehr ertragen konnte. Sie wurde nur 30 Jahre alt. Ihr Exil in Toronto verbesserte zwar ihre Lebenssituation. Ihre Traumata und psychischen und physischen Erschütterungen konnte das Exil allerdings nicht heilen. Sie hinterließ laut Deutsche Welle eine Nachricht an ihre Freund*innen:
"Ich habe versucht, Erlösung zu finden und es nicht geschafft. Bitte vergebt mir". Mit diesen Worten verabschiedete sich Sara Hegazy aus dem Leben. "An die Welt" gerichtet, schrieb sie in ihrem Abschiedsbrief: "Du warst weitgehend grausam, aber ich verzeihe."
Im Monat Juni werde ich jeden Tag ihren Namen aussprechen: Sarah Hegazi. Ich werde sie nicht vergessen. Und sie darf weltweit nicht vergessen werden. Ihre Lebensgeschichte zeigt, wie weit weg die Welt davon entfernt ist, dass LSBTIQ* Personen sicher, stolz und ohne Versteckspiel ihr Leben leben dürfen. Die Welt ist weit davon entfernt, das Leben und die Menschenwürde von queeren Menschen so zu achten, wie es ihnen zusteht. Und daher sind auch in diesem Jahr CSD-Paraden online und offline unabdingbar, die auf die Lebensgeschichten derjenigen aufmerksam machen, die weltweit unterdrückt, gefoltert und in den Tod getrieben werden, nur weil sie anders lieben und anders fühlen als andere. Ich verneige mich vor dir, Sarah Hegazi, und vor all den anderen zahllosen Opfern homo- und trans*feindlicher Gewalt und verspreche: Ihr seid nicht vergessen!
Schließen möchte ich mit einem Zitat von Desmond Tutu, dem schwarzen ehemaligen Erzbischof der Anglikanischen Kirche von Südafrika und Friedensnobelpreisträger von 1984:
"Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass Gott sagen würde: Ich werde dich bestrafen, weil du schwarz bist. Du hättest weiß sein sollen. Ich werde dich bestrafen, weil du eine Frau bist. Du hättest ein Mann sein sollen. Ich bestrafe dich, weil du homosexuell bist. Du hättest heterosexuell sein sollen. Ich kann mir beim Westen willen nicht vorstellen, dass Gott die Dinge so sieht." (Übersetzung K.S.)