"Bitte, ich kann nicht atmen!" - seit Ende Mai sind diese Worte nicht nur mit dem Corona-Virus verbunden, sondern auch mit dem "Foltertod" (so Cicero) von George Floyd in Minneapolis. Es waren die letzten Worte des 46-jährigen Schwarzen, bevor er unter den Knien mehrerer weißer Polizisten starb. Seit seinem Tod am 27. Mai protestieren Zehntausende in vielen Städten der USA gegen den anhaltenden Rassismus.
Der unfassbare Vorfall in Minneapolis ereignete sich nur einen Tag nach dem deutschen Diversity-Tag am 26. Mai beziehungsweise sechs Tage nach dem World Day for Cultural Diversity am 21. Mai. Kulturelle Vielfalt - in Minneapolis wurde sie zu Boden gedrückt und erstickt. Die andauernde Diskriminierung von Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe ist sichtbares Alarmsignal dafür, wie es um Cultural Diversity bestellt ist.
In großen Unternehmen gehört Diversity Management seit vielen Jahren zur Unternehmenskultur - in Deutschland genauso wie in den USA. Diversity bezieht sich dabei natürlich nicht nur auf die Hautfarbe, sondern zum Beispiel auch auf die sexuelle Orientierung. Doch eine Umfrage unter queeren Beschäftigten, die YouGov im letzten Jahr durchgeführt hat, zeigt, dass selbst in Deutschland rund ein Drittel aller Queers im beruflichen Umfeld lieber ungeoutet bleibt. Ein Viertel aller Befragten gibt zudem an, am Arbeitsplatz Benachteiligung aufgrund von sexueller Orientierung oder Identität erfahren zu haben.
Wer Diskriminierung erleidet, sich bedrängt fühlt oder ständig auf der Hut ist, nicht zu viel von sich persönlich preis zu geben, auch dem oder der kann die Luft auf Dauer eng werden: "In dieser Firma habe ich keinen Raum zum Atmen!" Atemnot, Drangsal, Enge - sie verbinden Corona-Patienten, Folteropfer und diskriminierte Menschen.
Pfingsten ist in diesen Tagen der umfassenden Atemnot ein hochaktuelles Fest. Pfingsten, so schreibt Heribert Prantl in seiner sehr lesenswerten Kolumne der Süddeutschen Zeitung, sei das "Fest der göttlichen Beatmung". Recht hat er, denn was im Deutschen (und Englischen und Spanischen) so vergeistigt klingt, ist im hebräischen Orginal ganz real beschrieben: "ruach" bedeutet "Wind", "Atem", "Hauch". Als die Welt noch ohne Ordnung war, wehte der Geist Gottes über den Urfluten der Erde, so beschreibt es die Erzählung im ersten Buch Mose (1. Mose/Gen 1,2). In der Erzählung von der Erschaffung der Menschen werden diese lebendig, indem Gott ihnen ganz elementar den "Lebensodem" einbläst (1. Mose/Gen 2,7). Die Vision im 37. Kapitel des Propheten Hesekiel (Ezechiel) hat Lukas vermutlich im Hinterkopf gehabt, als er in der Apostelgeschichte beschreibt, was an Pfingsten mit den Anhänger*innen Jesu passiert ist. Hesekiel sieht ein riesiges Leichenfeld und wird von Gott gefragt, ob er meint, dass diese Toten wieder lebendig werden können. "Mein Gott, du nur weißt das.", antwortet der Prophet. Gott beauftragt Hesekiel daraufhin, den Totengebeinen neues Leben zu weissagen. Die Knochen sortieren sich wieder zu Körpern, und Sehnen und Fleisch überziehen sie, doch es bedarf eines zweiten Aktes, um sie wieder mit Leben zu erfüllen: Ezechiel muss noch eigens den "Lebensgeist" (Übersetzung der Gute Nachricht Bibel) anrufen. Dieser kommt aus allen vier Himmelsrichtungen herbei und füllt die leblosen Körper mit neuem Leben. (Hes/Ez 37,1-4)
Dass Lukas diese Worte in Erinnerung hatte, als er das Pfingstereignis beschrieb (Apg 2,1-41), ist mehr als deutlich, wenn er davon berichtet, dass am Pfingsttag ein "mächtiges Rauschen, wie ein Sturm vom Himmel" über die Anhänger*innen Jesu kam. Die Hinrichtung Jesu hatte den Jünger*innen die Kehle zugeschnürt, die Luft zum Atmen genommen. Verängstigt lebten sie in Jerusalem und Umgebung, trafen sich zurückgezogen in einem der Häuser. Wie tot waren sie - ein Bild, das auch die Vision des Ezechiel bestimmt: Die Auslegung nämlich, die Gott selbst dem Propheten gibt, lautet so: "Du Mensch, diese Totengebeine sind das Volk Israel. Du hörst doch, wie sie sagen: 'Unsere Gebeine sind vertrocknet, unsere Hoffnung ist dahin; wir haben keine Zukunft mehr!'" Ganz ähnlich dürften sich die Jünger*innen gefühlt haben, ganz ähnlich fühlen sich vermutlich diejenigen, denen auch heute der Raum zum Atmen eng wird: Menschen, die an Covid-19 erkrankt sind, Menschen, die immer und immer wieder Diskriminierung erfahren oder in Angst vor Diskriminierung und Verfolgung leben müssen.
Wo Gottes Geistkraft Menschen ergreift, da entsteht neuer Raum zum Atmen, da werden scheinbar Tote lebendig, da werden Hoffnungslose be-geistert. "Veni, Creator Spiritus!", "Komm, Schöpfer Geist!" ruft daher eines der ältesten Pfingstlieder der Kirche. Pfingsten ist das Fest des neuen Lebens, der überbordenden Vielfalt Gottes, das Fest der Begeisterung. Ein Fest, das Mut macht inmitten von Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit, ein Fest, das Menschen aufstehen lässt für die Vielfalt des Lebens!
Diese Vielfalt kommt auch in der Pfingstgeschichte selbst zum Ausdruck: In ihrer neuen Be-Geisterung sind die Jünger*innen von aller Angst befreit und sie trauen sich wieder auf die Straßen und an die öffentlichen Plätze und erzählen von Jesus. Das aber so, dass Menschen aus allen Teilen der Erde die Botschaft in ihrer eigenen Sprache hören - der Anfang der Vielfalt des Christentums. Gottes lebendige und Leben schaffende Geistkraft verbindet uns in Verschiedenheit, christlicher Diversity Day...