Memento Mori
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"Herr, lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden." (Ps 90,12) Gedanken zu Sterben und Klugheit in der Corona-Krise.

„Wenn ich höre, alles andere habe vor dem Schutz von Leben zurückzutreten, dann muss ich sagen: Das ist in dieser Absolutheit nicht richtig. Grundrechte beschränken sich gegenseitig. Wenn es überhaupt einen absoluten Wert in unserem Grundgesetz gibt, dann ist das die Würde des Menschen.“

Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble hat für diese deutlichen Worte im Tagesspiegel-Interview Zustimmung und Kritik gleichermaßen geerntet. Mit seiner Aussage hat er deutlich gemacht, dass die Werte-Debatte in einer demokratischen Gesellschaft immer wieder neu geführt werden muss. Tatsächlich ist es ja bei genauerem Hinsehen schon beeindruckend bis erschreckend, wie viele Freiheits- und Minderheitenrechte dem Schutz der Gesundheit in den letzten Wochen untergeordnet worden sind – Kerstin Söderblom hat vor zwei Wochen in ihrem Blog auf diesen Sachverhalt aufmerksam gemacht.

Wellness und Gesundheit hatten in den westeuropäischen Gesellschaften schon vor der Corona-Pandemie einen hohen Stellenwert – mit Nahrungsergänzungsmitteln oder Fitness-Dienstleistungen lässt sich viel Geld verdienen. Oft genug waren und sind Queers dabei auch Trendsetter. Der gesunde, schöne, trainierte Körper – für viele von uns das erstrebenswerte Ideal. Ist „Gesundheit“ also nicht schon lange so etwas wie der neue Gott unserer Gesellschaft geworden, dem alles zu dienen hat?

Älterwerden, Sterben und Tod haben wir aus dem öffentlichen Leben – und oft auch aus unserem sozialen Umfeld – zunehmend verdrängt. Umso beklemmender die Bilder von überfüllten Intensivstationen oder Särgen, die mit Militärkonvois zu den Krematorien gebracht werden. Völlig klar: So ein Sterben wünscht sich keine und keiner von uns, und so einen Tod wünschen wir niemandem. Auch ein würdiges Sterben macht Menschenwürde aus. Und „Die ist unantastbar. Aber sie schließt nicht aus, dass wir sterben müssen.“, wie Wolfgang Schäuble sagt.

„Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.“, beten Menschen mit den Worten des 90. Psalms (Vers 12). Als schwuler Mann habe ich in den 80er und 90er Jahren schon einmal erlebt, wie der Tod ganz massiv ins Leben hereingebrochen ist: Das HI-Virus raffte damals viele Männer in der Community hinweg. In Nürnberg hatten wir gerade einen schwulen Sportverein gegründet und waren zu unserem ersten bundesweiten Volleyballturnier gefahren. Ich erinnere mich noch sehr gut an die Eröffnungsgala am ersten Abend: Im Rollstuhl sitzend, vom Virus gezeichnet, dem Tode nicht mehr fern begrüßte uns der Vorstand des gastgebenden Vereins… Der Tod war mitten im (sportlichen) Leben präsent!

Für Menschen mit HIV wurde „Gesundheit“ in den Anfangsjahren der Aids-Pandemie (ja, auch das HI-Virus wurde und wird so eingestuft: https://de.wikipedia.org/wiki/HIV!) zu einem relativen Wert: Die Nebenwirkungen der ersten Medikamentengeneration waren beträchtlich, für viele ging es eigentlich nur darum, die Zeit bis zum Sterben hinaus zu zögern und dem Virus und den Nebenwirkungen zum Trotz noch ein „lebenswertes“ Leben zu führen. „Alles, was ich zur Altersvorsorge angespart hatte, habe ich damals aufgelöst“, erzählte mir ein Bekannter, „ich wollte ja die Zeit genießen, die mir noch blieb.“ Als dann um die Jahrtausendwende eine neue Medikamentengeneration zumindest in den industrialisierten Ländern eine HI-Infektion zur chronischen Krankheit werden ließ, stellte ihn das vor neue Herausforderungen: Er musste das Leben wieder lernen, für die Zukunft planen.

Viele, die selber von einer Infektion betroffen sind, aber auch viele, die Menschen mit HIV und Aids erlebt haben und erleben, wissen, was die Worte des 90. Psalms bedeuten. Viele von uns sind durch die potentiell tödliche Präsenz des Virus in Nachdenken darüber gekommen, was wirklich wichtig ist im Leben. Die Community hat damals eine großartige Solidarität entwickelt, die nicht zuletzt auch darin ihren Ausdruck fand, dass Sterben und Tod eben nicht verdrängt wurden, sondern bei einer Veranstaltung wie der erwähnten Eröffnungsgala für alle sichtbar waren. Wir haben damals gelernt, mit dem Virus - und auch mit seinen Folgen – zu leben.

Dieser Lernweg steht uns nun in diesen Wochen und Monaten wieder bevor: Wir werden mit Sars-CoV2 leben müssen und wir werden Wege finden müssen, seinen ungebändigten Fortpflanzungswillen einzuschränken. Die einen sind dabei für das Virus leichtere Opfer als die anderen. Der Respekt vor der Würde jedes Menschen gebietet es daher, weiterhin achtsam und vorsichtig miteinander umzugehen. Uns bei all dem in Erinnerung zu rufen, dass wir trotz und hoffentlich in aller Würde sterben müssen, weitet aber den Blick auf all diejenigen, deren Menschenwürde nicht durch das Virus, sondern durch uns Menschen selbst bedroht ist: für diejenigen, die unter unserem Übermaß an Konsum, unter unserem Wegsehen vor Gewalt und ungerechten Strukturen, unter unserer Ignoranz leiden. Nach Berechnungen der Welthungerhilfe stirbt alle zehn Sekunden ein Kind unter fünf Jahren an den Folgen von Hunger…

Wenn uns der neue Blick auf das Sterben vor unserer Haustür wieder sensibel macht für Leiden und Sterben in dieser Welt, dann kann aus der Krise neue Klugheit entstehen. Dann führen „Recovery“-Programme in eine Welt, in der es mehr Gerechtigkeit und mehr Lebenschancen für alle gibt…