Wir wollen alle fröhlich sein. Dieser Satz geht derzeit wohl vielen Menschen nur schwer über die Lippen. Manche mögen ihn gar als Hohn empfinden. Und auch mir vergeht das Fröhlichsein schnell vor dem Hintergrund dieser Osterzeit, die so ganz anders ist als ich sie sonst kenne. Die Folgen der Ausbreitung des Corona-Virus bestimmen momentan nicht nur unseren Alltag, sie dringen auch tief in unser Innerstes vor und prägen unsere Gemütslage. Wie viele Menschen werden noch an dem Virus sterben? Was passiert, wenn es Freund_innen, Verwandte oder mich selbst erwischt? Das sind Fragen, die nicht nur mir dieser Tage auf die Stimmung schlagen. Aber auch weniger direkt lebensbedrohliche Themen treiben mich um. Wann wird die Einschränkung der Grundrechte wie etwa das Verbot von Gottesdiensten wieder aufgehoben? Was bedeutet es, dass zur Zeit keine Demonstrationen, wie beispielsweise die überall im Land geplanten Christopher-Street-Days, mehr stattfinden dürfen? Die Liste dieser Fragen ließe sich noch lange fortsetzen und ist individuell sicher jeweils anders akzentuiert.
Was uns als Christ_innen in dieser Situation sicher nicht hilft ist, alle diese Ungewissheiten zu verdrängen, ein wenig fromme Sauce darüber zu kippen und uns das Fröhlichsein mit dem Singen beschwingter Lieder herbeizwingen zu wollen. Also sollten wir derzeit nicht singen? Doch! Aber nicht, um etwas aus unseren Gedanken wegzuschieben, sondern zur Ermutigung, um hinschauen zu können. Lieder, wie sie uns im Evangelischen Gesangsbuch (EG) begegnen, sind eine geistige Erbauung, die uns stärkt, den Schrecken dieser Welt entgegen zu treten, weil sie unsere Sinne auf das lenkt und rückbesinnt, was wirklich zählt. Daraus kann echte Fröhlichkeit auch im Leid erwachsen. Ein ganz wunderbares Beispiel hierfür ist der Choral Wir wollen alle fröhlich sein in dieser österlichen Zeit (EG 100). Diese Aufforderung ist alles andere als frömmelndes Geschwätz, denn bereits im ersten Vers nennt uns der Text den Grund, aus dem wir Freude schöpfen können. Dort heißt es: Unser Heil hat Gott bereit. Diese fünf Worte fassen den Kern dessen, auf was wir als Christ_innen vertrauen dürfen, zusammen. Unser Heil das heißt, das allumfassende Wohlergehen unserer Seele, das ist bereits hergestellt, und zwar von Gott selbst. Dessen können wir uns sicher sein, was in dem Wort Heilsgewissheit zum Ausdruck kommt.
Hauptsache gesund. Hauptsache, ich bin nicht allein. Hauptsache, meine Beziehung funktioniert. Hauptsache, mein Geschäft geht nicht den Bach herunter. Das sind alles in der Tat wichtige Dinge, denn Jesus nachzufolgen heißt ja nicht, dass wir der Welt enthoben sind. Nein, wir sollen die Erde gestalten und auf ihr Verantwortung für andere sowie uns selbst übernehmen. Aber die Hauptsache ist all das nicht. Unser Heil hängt von alldem nicht ab. Unser Heil liegt wohl bereitet, in den Händen unseres liebenden Vaters im Himmel und von dort wird es uns auch keine Macht, kein Schicksaal und auch keine Pandemie entreißen können. Es ist unveräußerlich. Jesus Christus hat mit seinem Leben dafür gezahlt.
Hierauf weist uns die zweite Strophe hin, in der steht: Es ist erstanden Jesus Christ, der an dem Kreuz gestorben ist, dem sei Lob, Ehr zu aller Frist. Ausgangssperren, Kontaktbeschränkungen, Geschäftsschließungen, völliger Stillstand zentraler kultureller Institutionen. Die Maßnahmen, die momentan zur Eindämmung des Corona-Virus unternommen werden, sind eine historische Zäsur in vielen Lebensbereichen. Und über allem schwebt die bange Frage, wie wird es weitergehen? Schalte ich durch die Fernseh- und Radioprogramme, dann wird dort kaum noch etwas anderes diskutiert. So wichtig diese Meinungsbildung auch ist, so sehr gibt es die Momente, in denen mir das alles zu viel wird, in denen ich mal einen Augenblick zurücktreten und den Kopf wieder frei bekommen, mich erden muss. Das Lied weist mich darauf hin, dass es für diese Welt nur ein wirklich zentrales Ereignis gibt: Das Leben, Leiden und die Auferstehung Jesu Christi. Dies ist die wahre historische Zäsur in der Menschheitsgeschichte. Wenn wir uns hierauf besinnen, dann können wir daraus die Kraft ziehen, das Gegenwärtige besser auszuhalten und positiver selbst in die scheinbar hoffnungsloseste Zukunft zu schauen. Wir haben einen Gott, der weiß, was es heißt zu leiden. Gottes Sohn wurde gefoltert und hingerichtet. Ihm ist nichts Menschliches fremd. Wir können mit all unseren Sorgen zu ihm kommen. Und wir dürfen darauf vertrauen, dass er uns darin versteht. Aber dabei bleibt Gott nicht stehen. Das Kreuz ist nicht das Ende, sondern der Anfang. In Jesus Christus hat er bewiesen, dass das Leben stärker ist als der Tod. Dass ein Neubeginn auch dort möglich ist, wo alles verloren scheint. Ja, und dessen dürfen wir fröhlich sein, auch in Zeiten, in denen uns die Verluste derer, die den Virus nicht überlebt haben, täglich zutiefst betroffen machen.
Es gibt nichts, wovor wir uns fürchten müssen. Das macht der Choral im dritten Vers besonders deutlich. Dort singen wir: Er hat zerstört der Höllen Pfort, die seinen all herausgeführt und uns erlöst vom ewgen Tod. Viele Menschen, die nicht der heteronormativen Zwangsschablone entsprechen, etwa weil sie eine Person des gleichen Geschlechts lieben oder ihr Geschlecht nicht dem entspricht, was die Außenwelt ihnen zuschreiben will, erleben täglich Schlimmes, für viele ist das tatsächlich die Hölle auf Erden. Die gegenwärtigen Schutz- und Vorsichtsmaßnahmen verschärfen solche Zustände weltweit. Ich denke dabei an Jugendliche, die kaum persönlichen Kontakt zur Außenwelt haben können, zu den Menschen, die sie sonst unterstützen und nun mit ihren anti-homosexuell eingestellten Eltern isoliert leben müssen. Oder Personen, deren Geschlecht von anderen nicht anerkannt wird und die gerade jetzt dringend gesundheitliche Versorgung brauchen, aber ärztliche Einrichtungen aus berechtigter Angst vor symbolischer Gewalt nicht aufsuchen. Aber auch an gleichgeschlechtliche Paare, die einander wegen der Kontaktbeschränkungen nicht sehen können, weil der Staat, in dem sie leben, ihre Beziehung rechtlich nicht anerkennt. Und alle, die nun noch mehr Hassrede und Aufwiegelung der Bevölkerung gegen sich erleben, weil sie von antihomosexuellen Kirchenführern für den Ausbruch des Covid-Virus verantwortlich gemacht werden. In Jesus haben alle, denen es so und ähnlich geht, einen Heiland, der sie aus den höllischen Zuständen ihres Lebens herausführen will. Dabei kennt er viele Wege. Im Gebet kann sich der Jugendliche Jesus anvertrauen. Er wird ihm zuhören und ihn auch trösten. Einer anderen schenkt der Erlöser durch seine göttliche Fügung sensibles medizinisches Personal, wo sie es am wenigsten vermutet hätte. In einem wieder anderen Fall macht Jesus Menschen zu seinem Werkzeug. So wie die UN-Menschenrechtskommissarin Michelle Bachelet, die jüngst die Staaten der Erde gemahnt hat: "Lesbian, gay, bisexual, trans and intersex (LGBTI) people may be particularily vulnerable during the COVID-19 pandemic" und gefordert hat, die Diskriminierung dieser Personen zu beenden sowie ihnen die nötige besondere Unterstützung zukommen zu lassen, die sie jetzt brauchen. Es wäre eine Verklärung an dieser Stelle nicht auch zu erwähnen, dass nicht allen Menschen auf dieser Erde Gerechtigkeit widerfahren wird. Aber genau so wahr ist es, dass eine endgültige Erlösung in der Ewigkeit auf uns wartet. Es gibt keinen ewigen Tod, keine ewige Verdammnis oder dergleichen für alle, die Jesus Christus erlöst hat.
Es singt der ganze Erdenkreis dem Gottessohne Lob und Preis der uns erkauft das Paradeis, lautet es in der vierten Strophe. Wenn hier vom ganzen Erdenkreis die Rede ist, dann ist das ein deutlicher Hinweis darauf, dass wir in Christus eins sind. Wir sind Geschwister. Das bedeutet, dass mir jeder Mensch unabhängig von seinem Aussehen, seinem Geschlecht, seiner sexuellen Orientierung, seiner Sprache, seiner Herkunft, kurzum egal welcher unterscheidbarer Merkmale, die nächste Person ist. Nicht nur, aber gerade jetzt in dieser krisenhaften Situation sind wir als Nachfolger_innen Jesu Christi aufgefordert, dementsprechend zu handeln. Es ist wichtig, sich an der Osterbotschaft gemeinsam freuen zu können. Doch das alles ist nicht viel wert, wenn wir es dabei belassen. Auf der griechischen Insel Lesbos bahnt sich eine Katastrophe an. Weit mehr als 20.000 Geflüchtete leben dort unter unmenschlichen Bedingungen und haben schlichtweg überhaupt keine Chance, sich vor dem Corona-Virus zu schützen. Ja, nicht jedem Menschen kann Gerechtigkeit widerfahren, das stimmt, einfach deshalb weil wir nicht allmächtig sind. Aber das darf keine Ausrede dafür sein, es nicht zu versuchen. Den Geflüchteten, die dort auf Lesbos in Todesgefahr schweben, denen ist zu helfen. Für die Europäische Union ist das eine Kleinigkeit. Wer etwas anderes behauptet, lügt und schlägt damit dem, der sich für uns alle hingegeben hat, Jesus Christus, ins Gesicht. Christi Kinder stehen einander bei mit Worten und Taten. Das können auch kleine Taten wie eine Spende an eine Hilfsorganisation oder ein Brief an die örtlichen Bundestagsabgeordneten sein. Jeder Mensch soll in individueller Weise Christus nachfolgen. Nur tatenlos sollten wir nicht bleiben, wenn wir reinen Herzens auch die fünfte Strophe singen wollen:
Des freu sich alle Christenheit
und lobe die Dreifaltigkeit
von nun an bis in Ewigkeit.
Halleluja, Halleluja, Halleluja, Halleluja.
Gelobt sei Christus, Marien Sohn.
AMEN