"Dann kommst Du in die Hölle", hat ihm der Leiter der Gemeinde gesagt, in der er sich seit so vielen Jahren engagierte. Zwei Tage später, am Sonntag, als sie Gottesdienst feiern, ohne ihn, da ist schon alles weggeräumt. Sie haben sein Keyboard und alles andere, was an den einstigen Lobpreisleiter erinnert, aus dem Gottesdienstraum hinausbefördert. Der, der ihnen allen so viele Male gute Dienste dabei leistete, sie in die Anbetung zu führen, war getilgt worden, getilgt wie ein Rechtschreibfehler, der beim Schreiben eines Dokumentes mit der Entfernen-Taste ausgelöscht wird. Diese Begebenheit ist einem Freund von mir widerfahren, nachdem er dem Gemeindeleiter von seinen homosexuellen Gefühlen erzählt hat. Und es ist bei weitem nicht die einzige solcher Geschichten, die mir in den letzten Jahren berichtet wurde. Einer erzählte, er hätte zwar bleiben, aber nicht mehr mitarbeiten dürfen. Nicht einmal mehr im Chor hatte er die Erlaubnis mitzusingen, obwohl die seine Tenorstimme dort so dringend brauchten. Da saß er nun also im Gottesdienst, zum Zaungast degradiert, an dem Ort, der doch sein geistiges Zuhause war und musste sich anhören, wie vorn darum geworben wurde, dass doch bitte noch neue Männer dem Chor beitreten, vor allem Tenöre, weil der Chor sonst eingestellt werden müsse. Ein Dritter erzählte mir: "Homosexualität sei ja jetzt auch nicht so schlimm", hätten sie gesagt. Sie müssten darüber nachdenken. Nur das Abendmahl, das solle er doch jetzt bitte nicht mehr mit austeilen.
"Wie kannst Du überhaupt noch glauben?", fragen viele, wenn sie von derartigen Begebenheiten hören und die enormen Verletzungen sehen, die Christ_innen ihren Geschwistern nicht nur, aber besonders in den sogenannten "frommen" Gemeinden zufügen. Die Frage, die häufig von Menschen aus dem säkularen Spektrum gestellt wird, ist nur zu gut verständlich. Oft ist sie von einer tiefen Sorge begleitet: Der Person, die das alles erlebt hat, der darf das nicht wieder passieren, darum soll sie sich doch endlich von diesem vermeintlich schädlichen Glauben und denen, die ihn verkünden, trennen. Aber so einfach geht das eben nicht. Unser Glaube an den lebendigen Gott, der sich in Jesus Christus offenbart hat und durch den Heiligen Geist in unser Leben wirkt, der ist nichts, was wir einfach an- und abstellen können. Er ist, wie das Leben selbst, ein göttlicher Funke in uns. So wie wir das Leben in einen längst Verstorbenen nicht einfach wieder hineinpressen können, so verfügen wir auch nicht über unseren Glauben. Unser Glaube kommt von Gott, wird von ihm gegeben und liegt lebenslang in seiner Hand.
Im 9. Kapitel des Evangelisten Markus findet sich der Bericht über einen Vater, dessen Sohn von einem bösen Geist besessen ist. Der Mann bittet Jesus, sein Kind von dieser Besessenheit, die heute oft als Epilepsie gedeutet wird, zu befreien. Der Heiland wirkt hierauf erzürnt, weil seine Jünger_innen, die der Vater auch schon darum gebeten hatte, es nicht vermochten, den Knaben aus der Kraft ihres Glaubens heraus zu heilen. "Alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt", hält Jesus dem Vater schließlich entgegen, nachdem der Mann ihn ersucht, er möge sich seines Sohnes doch annehmen, wenn es Jesus denn möglich sei. Darauf bekennt der Vater inbrünstig: "Ich glaube; hilf meinem Unglauben!" (Markus 9, 24).
Näher betrachtet, hat dieser letzte Satz etwas sehr Paradoxes. Glaube und Unglaube - der Mann bekennt beides zugleich. Doch sind das nicht Gegensätze? So wie heiß und kalt, schwarz und weiß oder hell und dunkel? Nein. Unser Glaube ist durch eine Paradoxie gekennzeichnet. Wir können Jesus sehr wohl als Heiland anerkennen, doch trotzdem kann uns unsere menschliche Einfältigkeit den Blick darauf verstellen, welche Wunder der Sohn Gottes nicht nur allgemein hier auf Erden, sondern auch ganz konkret in unserem Leben wirken kann. Wenn wir sein Eingreifen nicht mehr wirklich erwarten, es nur als eine abstrakte, unwahrscheinliche Möglichkeit sehen, dann sind wir gläubige Ungläubige. In dem biblischen Bericht, den uns Markus überliefert, tut der Vater, als er sich seines Unglaubens gewahr wird, das Einzige, was in dieser Situation helfen kann. Er wendet sich an den, der den Glauben schenkt und legt seinen Unglauben vor ihn hin: "Herr, es fällt mir schwer an Dich zu glauben, also mach Du, der Du alles kannst, dass ich es kann" - das ist der Subtext unter den Worten des Vaters. In diesem Satz liegen zwei gegensätzliche Modi. Einerseits, ist es ein sich Fliehen, sich Klammern, die letzte Zuflucht in Gott Suchen, weil ja so viele andere Auswege schon abgeschnitten sind. Der Mann fällt auf die letzte Hoffnung zurück, die ihm noch bleibt. Andererseits ist eben dieses Zurückfallen auf Gott ein extrem starkes Bekenntnis zur Allmacht Gottes. Und nachdem er dieses Bekenntnis getan hat, da geschieht das Wunder: Gott lässt den Vater nicht im Stich, er hilft ihm, seinem Unglauben und seinem Sohn.
Die drei Männer, von denen ich oben berichtet habe, die haben mit Gott viele Jahre gerungen. Sie befanden sich, so wie der Vater in dem biblischen Zeugnis, in einer Krise ihres Glaubens. Geht das Bekenntnis zu Jesus Christus mit dem Ausleben des eigenen homosexuellen Begehrens zusammen? Und was wenn nicht? Müssen sie sich dann etwa entscheiden, ob sie weiter ihrem Heiland nachfolgen können? Warum hat mich der Schöpfer so geschaffen? Ist es nicht Irrsinn anzunehmen, ein Jünger Jesu dürfte einen Menschen des eigenen Geschlechts nicht lieben? Solche Fragen bewegten die Männer jahrelang in ihrem Herzen. Sie trieben sie umher. Täglich. Im Gebet brachten sie sie wieder und wieder vor Gott. Schließlich die Einsicht: Ja, es geht zusammen. Ja, ich kann meinen Weg mit Jesus weitergehen. Auch, wenn ich mir jetzt noch nicht vorstellen kann, wie das funktioniert. Gott hat sein Ja gesprochen und er wird mich leiten. Später das offene Bekenntnis vor der Gemeinde. So schlimm die Konsequenzen dieser Offenbarung vor den Geschwistern auch waren, so richtig ist dieser Schritt gewesen, das wussten sie. Egal was danach kam, wie tief der Absturz auch gewesen ist, alle Drei blieben immer bei Gott, im Vertrauen darauf, dass für ihn nichts zu schwer ist.
Dieses Ringen im und um den Glauben, ist etwas zutiefst Menschliches. Die meisten Christ_innen wissen, dass der Unglaube im eigenen Leben immer auch eine Rolle spielt. Mal mehr, mal weniger. Unser Glaube ist etwas Dynamisches und nichts Statisches, was wir einmal annehmen und dann nie wieder verlieren. Gerade weil wir darum wissen, können der Vater, von dem uns Markus berichtet, aber auch die drei Brüder, von denen ich hier erzähle, ein Vorbild sein. Wenn Dich große Sorgen, Situationen, die Dir Dein Leben um die Ohren fliegen lassen, Unglaube oder welche Entsetzlichkeiten auch immer zu überrollen drohen, dann flieh damit zu Gott. Dafür brauchst Du keine tägliche Bibellese, keine ausgeklügelten Konzepte der Stillen Zeit oder Exerzitien in einem Kloster, - auch wenn das alles seine Berechtigung haben und sinnvoll sein kann. Doch der Kern unserer Beziehung zu Gott, der Kern des sich-an-ihn-Haltens ist das Gebet. Die Zwiesprache mit dem, der uns den Glauben schenkt, vermag diesen immer wieder neu zu stärken. Ganz so wie eine Pflanze, die regelmäßig mit nährendem Wasser versorgt wird.
Als Menschen können wir keinem anderen Menschen den Glauben schenken oder entziehen. Wer glaubt, das zu können, begeht Sünde, denn er versucht sich an Gottes Stelle zu setzen. Wozu wir aber in der Lage sind, das ist, andere Menschen in ihrem Glauben zu stärken. Für diese Aufgabe sollten wir uns nach Gottes Plan und Willen als seine Werkzeuge benutzen lassen. Ein Beispiel hierfür sind queere christliche Gruppen und Gemeinschaften, die Menschen einen Raum bieten, die eine lange Geschichte mit Gott haben, aber nach all den Abscheulichkeiten, die andere Christ_innen zu ihnen gesagt und die sie ihnen angetan haben, auch begannen an ihrem Schöpfer zu zweifeln. Durch Zeugnisse von Geschwistern, denen es ähnlich ergangen ist und die heute wieder einen versöhnten Weg mit ihrem Herren gehen, kann ein schwacher Glaube neue Kraft bekommen.
Gott, hilf uns in unserem Unglauben. Lenke unseren Blick auf Dich und Deine Wunder. Ruf uns immer wieder zu Dir, auf dass wir die Zwiesprache mit Dir suchen. Und mach uns zu Deinen Diener_innen, damit wir unsere Geschwister in ihrem Glauben stärken.
AMEN.