Denn er wird abwischen alle Tränen
Matthias Albrecht
Ein Mann, der sich nie getraut hat, seine Liebe zu leben, stirbt, verzerrt von Kummer über das Verpasste. Angesichts solchen Leidens fühle ich mich manchmal hilflos. Doch Gottes Trost wirkt über den Tod hinaus. Der Herr bleibt unsere lebendige Hoffnung, auch im Leben nach dem Tod.

Ein kleiner Spaziergang über den Friedhof: Viele Menschen nehmen sich hin und wieder dafür Zeit. Sei es, weil sie dort einen Platz haben, wo sie ihrer Angehörigen gedenken können, weil sie sich dafür interessieren, wie die Bestattungskultur an dem Ort aussieht, an dem sie gerade Urlaub machen oder aber weil sie einen Ort der Ruhe aufsuchen wollen. Wenn ich auf dem Gottesacker, wie der Friedhof in christlichen Kreisen auch genannt wird, unterwegs bin, betrachte ich gern Grabsteine. Einerseits wegen der teilweise beeindruckenden künstlerischen Leistung der Steinmetz_innen, andererseits interessiert mich, welche Geschichten mir die Tafeln über die Personen erzählen, deren sterbliche Überreste hier ruhen. Meistens steht auf so einem Stein nicht viel, gerade mal der Name sowie das Geburts- und Sterbedatum, aber schon allein diese Angaben reichen häufig, um ein wenig über das Leben der verstorbenen Person zu erfahren. So wird mir etwa offenbart, dass ein Mensch schon sehr früh, vielleicht bereits als Säugling starb oder aber, dass eine andere Person über hundert Jahre alt geworden ist. Wo anders sehe ich anhand des eingemeißelten Tages des Todes des neben ihr bestatteten Ehemannes, dass eine Frau in jungen Jahren Witwe wurde und im Kontrast dazu, dass das Ehepaar, das unweit davon begraben liegt, sehr wahrscheinlich viele Jahrzehnte miteinander verbracht hat.

Lasse ich mich etwas länger darauf ein, über das Leben der Verstorbenen nachzudenken, dann geht mir durch den Kopf, was diese Menschen alles erlebt, aber gleichzeitig auch immer, was diese Menschen alles nicht mehr erlebt haben. Das Ende des Zweiten Weltkrieges, die erste Mondlandung oder den Fall der Berliner Mauer haben viele nicht mehr mitbekommen. Je intensiver ich mir das bewusst mache, je mehr Bitterkeit schleicht sich zuweilen in meine Gedanken. Besonders, wenn mir bewusst wird, dass ich hier auf diesem Friedhof ja gerade selbst Zeuge davon werde, was anderen nicht vergönnt war zu erleben. Sehe ich mich genauer um, so finde ich an fast keiner Grabstätte Hinweise auf Menschen, die nicht heterosexuell geliebt haben, während der Friedhof von heterosexuellen Ehepaaren voll ist. Und dann frage ich mich: Was für ein Leben muss das gewesen sein, dessen Wandel und Äußerungen hier auf dem Acker Gottes so unsichtbar sind, beziehungsweise so unsichtbar gemacht wurden? Der Frau, die so früh Witwe wurde, der hat ihre Schwägerin vielleicht die Hand gehalten, als sie weinend in der ersten Reihe im Trauergottesdienst zum Gedenken ihres Gatten saß. Aber was ist mit dem Mann, der im Grab links daneben liegt? Hat dessen Familie seinen Lebenspartner damals in den 1950er Jahren auch getröstet? Durfte sein Freund überhaupt zur Beerdigung kommen und wenn ja, saß er, wie es für einen Partner angemessen ist, ganz vorn oder doch nur in der letzten Reihe, damit die vermeintliche Schmach über ihre Liebe nicht öffentlich wurde? Für Letzteres spricht, dass die beiden Männer nicht nebeneinander beerdigt werden durften. Und wie war es vor dem Tod? Wie war das Leben für einen Mann, der nicht die Möglichkeit hatte, mit seinen Freund_innen über das erste richtige Verliebtsein zu reden? Der nicht die Möglichkeit hatte, den eigenen Eltern den ersten Partner vorzustellen. Der später aus Angst vor Strafverfolgung nicht die Möglichkeit hatte, gemeinsam mit dem Geliebten zusammen zu wohnen, geschweige denn einen Alltag, in dem sie allenthalben als Partner anerkannt waren, zu leben. Und der am Lebensende vielleicht nicht die Möglichkeit hatte, sich in Würde vom sterbenden Partner zu verabschieden? Sicher, es gab immer auch Biographien, in denen es möglich war, eine nicht-heterosexuelle Beziehung jenseits staatlicher und gesellschaftlicher Repressionen zu leben. Doch mein Fokus liegt heute auf den vielen, die das, aus welchen Gründen auch immer, so nicht haben konnten.

Schließlich komme ich mit meinen Gedanken bei mir selbst an. Was werde ich zu Lebzeiten nicht mehr mitbekommen? Im Vergleich zu früheren Generationen bin ich heute als homosexuell begabter Mensch besser vor Diskriminierung und Gewalt geschützt und ich darf jeden Tag wieder neu für Gleichberechtigung kämpfen. Aber eine Gesellschaft, in der es völlig egal ist, ob ein Mensch nun einen Mensch gleichen oder verschiedenen Geschlechts liebt, die werde ich sehr wahrscheinlich nicht mehr erleben. Dazu sind die seit Jahrhunderten tradierten Vorurteile und Ressentiments von der vermeintlichen Unwertigkeit homosexueller Liebe zu tief in die Gesellschaft und vor allem in die Köpfe und Herzen der Menschen eingeschrieben.

Am Ende dieses Gedankenganges könnte Bitterkeit stehen bleiben. Zu ihr könnten sich dann noch Gefühle der Ohnmacht gesellen. Ohnmacht darüber, dass es eben nicht zu ändern ist, was denen die schon verstorben sind, entgangen ist, dass sie verfolgt, verlacht, vernichtet wurden, dass sie ihre Liebe, ihr Begehren nicht frei leben konnten und Ohnmacht darüber, dass ich und meine Generation auch keine volle Gleichberechtigung im eben beschriebenen umfassenden Sinne erlangen werden. Doch dann wird mir bewusst, dass der Ort, an dem ich mich befinde, der Friedhof, der Gottesacker, eben kein Ort des End- und Letztgültigen ist. Hier ist ein Ort, an dem wir des Todes und des Lebens gedenken und zwar nicht nur des Lebens, das vergangen ist, sondern auch des zukünftigen Lebens, das auf den Tod folgen wird. Als Christ_innen haben wir mit Jesus Christus auch und besonders im Tod eine lebendige Hoffnung. Unser Heiland hat den Tod überwunden und für uns den Weg zum ewigen Leben freigemacht. Und auch, wenn wir auf dieser Erde noch wenig Konkretes über dieses ewige Leben wissen, so ist das, was uns bereits in der Heiligen Schrift darüber offenbart wird, ein echter Grund zur Zuversicht.

Widerfährt Menschen Leid, dann neigt das Umfeld, das Trost spenden möchte, oft dazu, Redewendungen anzuwenden wie: Schlaf erst mal, morgen früh sieht die Welt schon wieder ganz anders aus. Oder: Die Zeit heilt alle Wunden. Sicherlich, diese Aussprüche sind nicht immer falsch, doch letztlich bleiben sie Binsenweisheiten. Wenn ein Mann aber im Gefängnis sitzt, nur weil sein Freund bei ihm übernachtet hat, dann sieht die Welt für ihn sicherlich nicht morgen schon wieder ganz anders aus und wenn dann eben nur im negativen Sinne. Sollte er deshalb auch noch aus dem Staatsdienst, etwa im Beruf des Lehrers, entfernt werden, dann kann das so tiefe Wunden reißen, dass diese auch nicht mehr von der Zeit geheilt werden. Vielen Tausend Männern ist es während der Zeit der staatlichen Verfolgung von Homosexualität in Deutschland ähnlich ergangen. Andere haben bis zum Lebensende nie den Mut gefunden, sich ihre Gefühle einzugestehen und Liebe, Sexualität und Beziehung mit einem anderen Mann zu leben, obwohl die schmerzliche Sehnsucht danach sie ihr ganzes Leben begleitet hat. Vielleicht nicht alle, aber doch eine beträchtliche Anzahl dieser Männer dürfte über das was sie erlebt haben in Gram, Kummer, Unfrieden und Bitterkeit verstorben sein. Es ist gut zu wissen, dass dies vor Gott nicht der Schlusspunkt ihres Lebens ist. Der Seher Johannes berichtet in seiner Offenbarung über die neue Welt Gottes, in der wir nach unserem Dahinscheiden leben werden: "Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein" (Offb. 21,4).

Wer auf der Erde keinen Trost in seinem Kummer erfahren hat, kann darauf vertrauen, dass Gott sich diesem Schmerz in der Ewigkeit annehmen wird. Das bedeutet, der Schmerz aus dem irdischen Leben läuft nicht einfach ins Leere, sondern Gott selbst wird uns in diesem Schmerz begegnen, ihn ansehen und heilen. Unser himmlischer Vater sagt uns zu, unsere Tränen zu trocknen, auf dass wir echten Frieden in ihm und bei ihm finden. Am Ende wird alles gut – das ist keine Binsenweisheit, sondern Gottes Wahrheit. Auch der zweite Teil des Verses aus der Offenbarung gibt Anlass zu großer Zuversicht. Johannes prophezeit, dass Gott eine neue Welt erschaffen wird, die frei ist von Tod, Leid, Geschrei und Schmerz. Gott setzt einen endgültigen Schlussstrich unter all das, was uns hier in dieser Welt belastet. Es wird uns, nachdem wir seinen Trost für unsere hiesigen Verletzungen erhalten haben, kein neues Leid mehr widerfahren.

Es wird Wunden in diesem Leben geben, die bleiben offen, die bleiben schmerzhaft, die quälen uns bis ans Ende. Alle Formen von anti-homo-, anti-bi-, anti-trans- sowie anti-intergeschlechtlicher Gewalt und Ideologie gehören dazu. Doch die Verheißung von Gottes neuer Welt kann uns tiefen Frieden darüber geben, dass im Diesseits nicht bereits alles geklärt und auch nicht bereits alles zum Guten gewendet werden kann. Das heißt nicht, dass wir nicht jeden Tag, um Christi Willen, daran arbeiten sollten, dass diese Welt ein besserer Ort wird. Aber der Vollender unseres Lebens, der sind nicht wir selbst. Der Vollender ist und bleibt Gott. Er wird uns heil machen und in dieser Gewissheit dürfen wir schon jetzt Ruhe und Frieden finden.

AMEN