Eine erlöste Welt nur ohne Religion?
Wolfgang Schürger
Eine unkonventionelle Inszenierung von Wagners Parsifal nimmt Wolfgang Schürger zum Anlass, darüber nachzudenken, wie ideologisch bedingte Konflikte überwunden werden können.

Die Bundeskanzlerin liebt die Richard-Wagner-Festspiele in Bayreuth - aber auch viele Queers. Der Grüne Hügel ist immer auch der Ort für ein vor allem schwules Stelldichein. Doch regelmäßig taucht im Freundeskreis dann auch die Frage auf: "WIe kannst du da hin gehen? Wagner war doch auch ein Wegbereiter für die Nationalsozialisten!?" Das ist vermutlich etwas verkürzt gesagt, denn der Komponist selber ist ja schon 1883 gestorben - aber ja, auch Adolf Hitler war mit großer Begeisterung bei den Festspielen zu sehen, und die Ouvertüre zu Rienzi wurde unter den Nationalsozialisten zur Ouvertüre der Reichsparteitage.

Wagners zweite Frau Cosima, die ihn um fast 40 Jahre überlebte und nach seinem Tod lange die prägende Figur in Bayreuth war, pflegte ab 1888 engen Kontakt zu Houston Steward Chamberlain, der nun zweifelsohne einer der wichtigsten Vordenker der Nazi-Ideologie war. Chamberlain wie Hitler - und wohl auch mancher Schwuler heutzutage - liebten das Monumentale und Erhabene in Wagners Musik. In seinen Werken fanden sie freilich durchaus auch Anknüpfungspunkte für ihren politischen Antisemitismus. In seiner Broschüre "Das Judenthum in der Musik", unter Pseudonym veröffentlicht 1850, namentlich 1869, vertritt er eindeutig antisemitische Positionen, auch die Figur des Beckmesser in den Meistersingern ist als Karikatur eines Juden gezeichnet (und musikalisch untermalt). Dabei muss man allerdings bedenken, dass Antisemitismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der deutschen Gesellschaft weit verbreitet war. Wagner nutze sie offenbar vor allem, um seine Konkurrenten Felix Mendelssohn-Bartholdy und Giaccomo Meyerbeer zu diffamieren. Ein politischer Antisemitismus war ihm eher suspekt, denn wer Wagner näher betrachtet - und zwar sowohl die Person selbst als auch seine Musik, entdeckt dagegen sehr schnell, wie revolutionär Wagner war. Die revolutionären Strömungen der 1840er Jahre konnten Wagner zum Beispiel durchaus begeistern. 1849 beteiligte er sich aktiv am Dresdner Maiaufstand mit dem Ziel, König Friedrich August II. von Sachsen zu stürzen und eine sächsische Republik zu etablieren. Der Aufstand scheitert und Wagner flieht mit gefälschtem Pass in die Schweiz. Mit seinem Zeitgenossen Karl Marx teilt er die Begeisterung für die Philosophen Feuerbach und Schopenhauer, und auch die Schriten von Karl Marx selbst finden in Wagner einen Bewunderer.

Wagner-Regisseure freilich stehen seit der Nachkriegszeit immer wieder vor der Herausforderung, Wagners Werke so zu inszenieren, dass ihre Ideologie-Anfälligkeit durchbrochen wird. Der Parsifal, Wagners "Bühnenweihfestspiel", stellt hier eine besondere Herausforderung dar, da sich darin alles um den Karfreitag und die Feier des eucharistischen Mahles zu drehen scheint. Groß ist die Versuchung, dieses Werk als Zeichen der Überlegenheit des christlichen Glaubens zu inszenieren - mit einer machtvollen Eucharistiefeier als Schlussszene.

Dass Uwe-Eric Laufenberg, der Regisseur der aktuellen Bayreuther Aufführung, möglicherweise anderes im Sinn hat, lässt sich bereits beim ersten Bild erahnen, das die Gralsburg in eine durch einen der vielen aktuellen Bürgerkriege zerstörte Kirche verlegt. Im zweiten Aufzug erscheint dann Parsifals Widerpart, Klingsor, in der Rolle eines Sultans, der in seiner Schatzkammer christliche Kreuze hortet, die er offensichtlich von den Menschen erbeutet hat, die in seinem Hamam vom christlichen Glauben abgefallen und den Verlockungen der schönen Frauen erlegen sind. Im dritten Aufzug gesellen sich zu Christen und Muslimen dann  noch Juden und Atheisten, die alle gemeinsam auf die Ankunft Parsifals warten, der das große Erlösungswerk vollbringen soll. Der Zuschauer fragt sich in diesem Moment, wie eine eucharistische Feier hier noch Verbindung schaffen kann.

Parsifal erscheint dann auch keineswegs (wie häufig in anderen Inszenierungen) in der stilisierten Kleidung des Templerordens, sondern in einem schlichten schwarzen Anzug. Die Musik steigert die Dramatik der Szene, wie dies nur Wangersche Kompositionskunst vermag - und schließlich vollbringt der Held das große Erlösungwerk. Doch nicht im erneuten Vollzug der Eucharistiefeier, die Laufenberg im ersten Aufzug durchaus sehr blutrünstig darstellen konnte, sondern indem er alle religiösen Symbole und alle Zeichen von Ideologie in einem schwarzen Sarg versenkt. Die so von ihren ideologischen Barrieren Erlösten fallen sich gegenseitig in die Arme, der Vorhang fällt.

Es ist beeindruckend, wie stimmig Laufenberg die religions- und ideologiekritische Interpretation des Parsifal gelungen ist - angesichts der eucharistischen Prägung des Stückes wirklich genial! Der Regisseur bringt die Zuschauer*innen mit seinem Werk zweifelsohne ins Nachdenken darüber, in wie vielen Regionen der Welt aktuell religiöse oder weltanschauliche Ideologien Konflikte zumindest verstärken, wenn nicht sogar hervorrufen. Und doch bleibt für den Christen oder die Christin unter den Zuschauer*innen ein fahler Beigeschmack: Gibt es nicht auch die andere, die lebensförderliche, versöhnende Seite von Religion?

Gerade als queere Christ*innen haben sich viele von uns mit diesen Fragen nach der Rolle von Religion auseinandergesetzt: Diskriminierung von Queers ist in bestimmten Interpretationen des christlichen Glaubens nach wie vor zu finden - und viele von uns haben diese Diskriminierung erlebt und mussten sich mit entsprechenden Argumenten auseinandersetzen. Doch viele von uns haben auch die andere Botschaft gehört: "Gott nimmt dich an als sein geliebtes Kind, er hält dich und trägt dich, ganz egal, was andere von dir denken!" Die Liebe Gottes gilt allen Menschen - bedingungslos. Jesus von Nazareth hat das in seinem Verhalten gegenüber Minderheiten und Andersgläubigen deutlich gemacht, der Apostel Paulus hat in seinem Brief nach Galatien die Konsequenzen unmissverständlich formuliert: "Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt eins in Christus Jesus." (Gal 3,28). Ich bin überzeugt, dass diese Weite der Liebe Gottes auch Konsequenzen hat für das Miteinander der Religionen. Wir haben im ökumenischen Dialog gelernt, uns in unserer Verschiedenheit anzunehmen, jetzt geht es darum, dies auch im interreligiösen Dialog zu leben. Denn auch wenn religiösen Überzeugungen heute in vielen Teilen der Welt Teil des Problems von Gewalt sind - sie können auch zur Lösung beitragen.

Zur Vertiefung:
https://de.wikipedia.org/wiki/Richard_Wagner
https://de.wikipedia.org/wiki/Cosima_Wagner#Antisemitismus_und_der_Bayreuther_Kreis
https://de.wikipedia.org/wiki/Rienzi#Zeit_des_Nationalsozialismus
https://www.bayreuther-festspiele.de/programm/auffuehrungen/parsifal/