"Was nicht aufgearbeitet ist, wirkt weiter", zitiert Frank Otfried July, Bischof der württembergischen Landeskirche während seiner Bitte um Vergebung für Unrecht, das von unserer Kirche an gleichgeschlechtlich orientierten Menschen begangen wurde im Juli vor den Mitgliedern seiner Synode. Dieser Satz, der von dem früheren Kirchentagspräsidenten Andreas Barner stammt, ist wichtig, denn er macht deutlich, dass das Unrecht, welches homosexuell begabten Menschen angetan wurde, nicht nur kaum aufgearbeitet ist, sondern, dass es gerade deshalb bis heute wirkmächtig bleibt. Nun möchte mensch dem Bischof einer Landeskirche, die nicht gerade als ein Schutzhort für homosexuell begabte Menschen von sich reden macht, zur Auswahl dieses Ausspruchs beglückwünschen. Denn wenn sich der leitende Geistliche die zitierte Erkenntnis zu eigen machen würde und sich im Bündnis mit Anderen um die Aufarbeitung und die Überwindung von Diskriminierung in seiner Landeskirche bemühen würde, dann könnte sich vieles zum Besseren wenden. Doch leider bleibt seine Bitte um Vergebung, aber auch das sonstige Handeln seiner Landeskirche weit hinter dem Anspruch des Zitates zurück. Vielmehr ist die württembergische Landeskirche ein trauriger Beleg für die tiefe Wahrheit des Satzes: "Was nicht aufgearbeitet ist, wirkt weiter".
Gleich am Beginn der Bitte um Vergebung fällt auf, dass zwar auf die Verfolgung von homosexuell begabten Menschen im Nationalsozialismus und den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik eingegangen wird, dabei allerdings weitestgehend unbenannt bleibt, welchen Anteil die württembergische Landeskirche hieran hat. Lediglich an zwei Punkten wird July konkreter, so erklärt er, dass Menschen, die nach §175 verurteilt wurden auch nach dessen erheblichen Einschränkung 1969, in der württembergischen Landeskirche keinen ordentlichen Beruf ausüben konnten. Weiter bekennt er, dass die württembergischen Landeskirche in der Zeit des NS-Terror-Regimes geschwiegen hat, wo sie hätten sprechen müssen. Es ist aber nicht bloß das Schweigen. Die christlichen Kirchen haben durch ihre Lehre und Praxis die gesellschaftliche Ächtung von homosexuell begabten Menschen über viele Jahrhunderte maßgeblich voran getrieben. Darauf konnten die Nazis mit ihrer antihomosexuellen Ideologie aufbauen. Wer da nur vom Schweigen spricht, verharmlost die Mitschuld der Kirchen und vertut die Chance ehrlicher Aufarbeitung. Eine konkrete Benennung des Unrechts, welches die württembergische Landeskirche in den letzen vier Jahrzehnten an homosexuell begabten Menschen verübt hat, fehlt beinahe gänzlich. July redet zwar von "Lieblosigkeit, Richt- und Ausschlussgeist auch bei uns, in unserer Kirche" und dass es "noch gruppenbezogene Vorurteile gibt, die die Annahme und Liebe zu einzelnen von Christus gerufenen Menschen verstellen", doch er belässt es bei diesen vagen Formulierungen. Hier drängt sich die Frage auf, will er nicht genauer hinsehen oder kann er es nicht? Wie ernsthaft ist ihm das Anliegen, das Vergangene aufzuarbeiten, damit es nicht weiter wirken kann? Hat es in den 1980ern, den 1990ern und darüber hinaus keine Diskriminierung von kirchlichen Mitarbeiter_innen auf Grund ihrer homosexuellen Begabung seitens der Landeskirche gegeben? Was ist mit den Pfarrer_innen, die nicht mit ihren gleichgeschlechtlichen Partner_innen ins Pfarrhaus einziehen duften? Wie hat sich die Landeskirche in Konfliktfällen zwischen homosexuell begabten Pfarrer_innen und diskriminierenden Gemeinden verhalten? Konnten diese Geistlichen auf den Rückhalt ihrer Dienstherrin vertrauen oder hat sich die Landeskirche nicht eher hinter diejenigen gestellt, die diskriminierten? Wie steht der Bischof dazu, dass sein Bildungsreferent, als es darum ging, die Repräsentation von nicht- heterosexuelle Identitäten im Lehrplan von Baden-Württemberg zu verankern, von "Ideologisierung und Indoktrination" gesprochen und damit die Überwindung von Diskriminierung aktiv behindert hat? Wo hat die Kirchenleitung öffentlich widersprochen, wenn zu sog. Konversionstherapien geraten wurde? Wo wenn Homosexualität mithilfe der Bibel abgewertet wurde? All diese Punkte bleiben in der Bitte um Vergebung unerwähnt. Es klingt so, als wäre es einfacher, über die Diskriminierung in der länger zurückliegenden Vorzeit zu reden. Das aber ist keine echte Aufarbeitung.
Auch zur jüngsten Vergangenheit, namentlich dem Synodenbeschluss vom März diesen Jahres, der die Behauptung der Ungleichwertigkeit homo- und heterosexueller Liebe fortschreibt, verliert July kein Wort. Höchstens indirekt, indem er etwa von verschiedenen "theologischen Deutungen und persönliche[.n] Überzeugungen und Haltungen" in Synode und Landeskirche spricht. Im selben Atemzug betont er, trotzdem seien alle der "festen Auffassung, dass es einen lieblosen Umgang, geschichtsvergesse Ausgrenzung oder polemische Verachtung von homosexuellen Menschen […] nicht geben darf". An dieser Stelle drängt sich die Frage auf, wie ernst er es mit seinem Zitat meint: "Was nicht aufgearbeitet ist, wirkt weiter". Denn was will July sagen, wenn er von verschiedenen "theologischen Deutungen und persönliche[.n] Überzeugungen und Haltungen" spricht? Allem Anschein nach meint er damit doch wohl auch solche Haltungen und Überzeugungen, die Homosexualität als gegen Gottes Wille bezeichnen und homosexuell begabte Menschen deshalb den Segen verweigern. Es klingt so, als wolle der Bischof diese Haltungen gegen den berechtigten Vorwurf der Diskriminierung in Schutz nehmen. So als könne mensch über den Wert homosexueller Liebe ganz unterschiedlich urteilen, ohne homosexuelle Menschen zu diskriminieren und ihre Würde zu verletzen. Das aber geht eben nicht. Wer homosexuelle Liebe abwertet, der wertet homosexuell liebende Menschen ab, ob er das nun will oder nicht. In dieser Frage ist kein Kompromiss möglich. Entweder bekennt sich die württembergische Landeskirche zur Gleichwertigkeit homosexueller Liebe oder eben nicht. Und sie hat sich erst vor wenigen Monaten explizit gegen dieses Bekenntnis entschieden. Und das ist ein Problem. Eines, das in einer Bitte um Vergebung an die deren Liebe, deren Beziehungen und deren Ehen abermals abgewertet werden, nicht einfach verschwiegen werden kann. Und schon gar nicht können die, die homosexuelle Liebe abwerten in einem Schuldbekenntnis in Schutz genommen werden. Wie soll denn Kirche ein offener, einladender Ort sein, wenn auf der einen Seite das Bedauern über geschehenes Unrecht geäußert wird, aber auf anderen Seite gleichzeitig unvermindert weiter diskriminiert und Diskriminierung legitimiert wird? Es ist ein Widerspruch in sich. Gerade so, als ob ich um Verzeihung bitte, weil ich mein Gegenüber getreten habe und während ich ihm die Hand zur Versöhnung reiche, abermals schmerzvoll zutrete und das aus voller Überzeugung. Eine solche Bitte um Vergebung ist mit Verlaub nicht glaubwürdig. Ja, alle können am Tisch der Kirche sitzen, alle, auch diejenigen, die diskriminierende theologische Überzeugungen in sich tragen. Aber wer in irgendeiner Weise, basierend auf diesen Gedanken, andere davon abhält mehr oder weniger vom Gabentisch der Kirche zunehmen, wie beispielsweise im Falle der kirchlichen Trauung, der gehört zurecht gewiesen und es gehören diesen Menschen ihre Grenzen aufgezeigt. Solange es keine konsequente Aufarbeitung, Benennung und Ablehnung dieses theologischen Irrwegs gibt, der niemals, weder in der württembergischen Landeskirche noch sonst wo, Heil, sondern immer nur schlechte Frucht hervorgebracht hat, so lange wird dieser Irrweg weiterwirken. Mitten in die Kirche Jesus Christi hinein. Und schuldig machen sich dabei nicht nur die, die aus Glaubensüberzeugungen auf der Abwertung homosexueller Liebe bestehen. Schuldig machen sich genauso diejenigen, die diese kleine radikale Minderheit aus Konfliktscheu gewähren lassen.
Der Reformator Martin Luther schreibt in seinen, für unser evangelisches Bekenntnis grundlegenden, 95 Thesen:
"1. Da unser Herr und Meister Jesus Christus spricht "Tut Buße" usw. (Matth. 4,17), hat er gewollt, daß das ganze Leben der Gläubigen Buße sein soll.
3. Es bezieht sich nicht nur auf eine innere Buße, ja eine solche wäre gar keine, wenn sie nicht nach außen mancherlei Werke zur Abtötung des Fleisches bewirkte."
Nachdem ich die Bitte um Vergebung gehört habe, bleibt für mich und viele andere die Frage offen, worin sich diese mancherlei Werke, von denen Luther spricht und die eine Buße erst wahrhaftig machen würden, in der württembergischen Landeskirche zeigen. Der Bischof wählt schöne Worte, solche von Würde, von Dazugehören und von bedingungslosem Geliebtwerden. Doch das Handeln der württembergischen Landeskirche gegenüber homosexuell begabten Menschen in Vergangenheit und besonders auch in der Gegenwart spricht ganz andere Worte. July sagt nicht, was sich in der Zukunft ganz konkret ändern soll. Deshalb ist es mir nicht möglich, in der Bitte um Vergebung einen Willen zur Umkehr zu erkennen. Dabei gäbe es doch eine ganze Menge von Taten, die innere und äußere Buße bezeugen, die die württembergische Landeskirche zu einem Schutzraum für homosexuell begabte Menschen machen und ihnen das Vertrauen in diese Kirche zurückgeben könnten.
Da wäre zunächst der unsägliche Beschluss zur Trauung. Statt weiter der Illusion eines geistlich haltbaren Kompromisses hinterherzulaufen und eine kirchliche Einheit zu beschwören, die nichts weiter als ein sinnentleerter Selbstzweck und der Anschein von Harmonie ist, könnten die Verantwortlichen in der württembergischen Landeskirche den Mut aufbringen, auch gegen heftige Widerstände eindeutig für die Gleichstellung und gegen die Diskriminierung ihrer homosexuell begabten Gläubigen zu kämpfen. Das würde heißen, dass besonders jene, die heute nicht ausdrücklich Partei ergreifen, weil sie sich nicht in diesen Kampf einbringen wollen, sei es aus Bequemlichkeit, aus Ängstlichkeit oder aus Opportunismus, sich endlich auf die Seite derer stellen, die die Ungleichbehandlung beenden wollen. Weiter sollte Bischof July seine eigenen Forderungen wider die Geschichtsvergessenheit und dafür, dass "eine Erinnerungskultur entstehen möge“ nachkommen und zu diesem Zweck eine lückenlose Aufarbeitung des Unrechts an homosexuell begabten Menschen in seiner eigenen Landeskirche bis in die Gegenwart beauftragen. So wie es seine Nachbar_innen in der Badischen Landeskirche aktuell auf Beschluss der Landessynode tun. Denn erst dann, wenn systematisch jene Strukturen analysiert, offengelegt und die Akteur_innen benannt sind, die das Unrecht gegen homosexuell begabte Menschen innerhalb der württembergischen Landeskirche ermöglicht haben und bis heute ermöglichen, kann neues Unrecht verhindert werden. Ganz im Sinne des Zitates: "Was nicht aufgearbeitet ist, wirkt weiter". Und darum braucht es auch letztlich einen Aktionsplan gegen Homosexuellenfeindlichkeit mit konkreten Maßnahmen, die auf allen Ebenen der württembergischen Landeskirche umgesetzt werden. Vielleicht kann dann eines Tages eine echte Bitte um Vergebung für Unrecht, das von unserer Kirche an gleichgeschlechtlich orientierten Menschen begangen wurde, folgen. Eine, zu der auch die Verbände der homosexuell begabten Menschen von der württembergischen Landeskirche offiziell eingeladen werden. Eine, die sich auch an bisexuell, transgeschlechtlich, transsexuell und gender-queer begabte Menschen richtet. Und vor allem eine, der auch von den Menschen, denen Unrecht getan wurde, entsprochen werden kann, weil man ihr anmerkt, dass ihr eine ehrliche Aufarbeitung des Unrechts vorangegangen ist.