Julie und ich sind Tandempartnerinnen im Mentoringprojekt des Europäischen Forums christlicher LSBT Gruppen in Osteuropa. Ich habe darüber berichtet. Zehn Tandems arbeiten seit über einem Jahr zusammen an Fragen von Vereinbarkeit von sexueller Orientierung, Geschlechtsidentität und christlichem Glauben in Osteuropa. Sie setzen sich mit queerer Bibelexegese, geistlicher Leitung und Teamentwicklung von Regenbogengemeinden in Osteuropa auseinander. Ich habe Julie anlässlich ihres Besuchs in Deutschland über ihre Erfahrungen in Russland interviewt. Ich habe das Interview vom Englischen ins Deutsche übersetzt.
KS: Erzähl mir ein wenig über dein Leben: Woher kommst du und was machst du beruflich?
Julie: Ich komme aus Moskau, Russland, und ich bin Lehrerin für Englisch, Dolmetscherin und LGBTQ (lesbian, gay, bisexual, transgender, queer)-Aktivistin in einer christlich ökumenischen Gemeinschaft. Sie heißt „Light of the World“. Ich bin in einer großen Familie aufgewachsen. Meine Eltern gehören einer evangelikalen Freikirche an, in der ich selbst lange Mitglied war. Ich möchte daran mitwirken, dass es sichere und gastfreundliche Räume für LGBTQ Gläubige gibt. Denn ich weiß, wie wichtig eine solche Unterstützung ist.
KS: Wie hast du herausgefunden, dass du Frauen liebst? Hat diese Entdeckung dein Leben verändert?
Julie: Ich glaube, ich habe es gewusst, seit ich etwa elf Jahre alt war. Aber natürlich habe ich es nicht als gleichgeschlechtliche Liebe erkannt. Ich hatte eine Freundin, die ich immer in der Nähe haben wollte. Aber ich kannte keine Wörter wie „lesbisch“, „Homosexualität“ oder ähnliches. Als ich 16 Jahre alt war, traf ich ein Mädchen, das später meine Freundin wurde. Seitdem habe ich mich ernsthaft mit meiner Identität auseinandergesetzt. Zum Glück habe ich schnell meinen inneren Frieden mit meiner Entdeckung gefunden. Obwohl meine Eltern sehr negativ reagiert haben und glaubten, dass ich von anderen in die Irre geführt wurde, wusste ich in meinem Herzen, dass ich stark und stur genug bin, um meinen eigenen Weg zu gehen.
Als ich meine Sexualität anerkannt hatte, fühlte es sich an, als würden Teile eines Puzzles zusammenkommen. Ich hatte nicht mehr das Gefühl, am Rand einer großen Leere zu stehen. Ich stand nicht mehr vor dem Nichts, wenn ich mir versuchte vorzustellten, später einmal einen Mann zu heiraten. Diese Erkenntnis erschwerte meine Beziehung zu meinen Eltern. Ich kann bis heute mit ihnen darüber nicht reden. Es erlaubte mir jedoch, Verantwortung für meinen eigenen Weg zu übernehmen.
KS: Wie kannst du dein eigenes Leben leben, obwohl du über den homo- und transfeindlichen Kontext von Staat und Kirche in Russland und die strengen Beschränkungen der russischen Gesetze in Bezug auf LGBTQ-Menschen Bescheid weißt.
Julie: Moskau, die Stadt, in der ich wohne, ist eine Metropole mit über 15 Millionen Einwohnern. 'Anders' zu sein, ist hier nicht so sehr ein Problem. Denn die Menschen haben meistens bessere Dinge zu tun, als sich um die Menschen um sie herum zu kümmern. Obwohl mir klar ist, dass dies trügerisch sein kann, fühle ich mich sicher, weil ich in meinem Aussehen oder meinen Handlungen nicht sehr 'alternativ' bin. Menschen in Russland stören sich im Alltag eher an Dingen, die sich von traditionellen Sehgewohnheiten abheben, zum Beispiel im Hinblick auf Aussehen oder Geschlechterrollen. Mir ist aber auch klar, dass diese Haltung Schuldzuweisungen gegenüber Gewaltopfern fördert. Nach dem Motto: ihr seid selbst schuld, wenn ihr überfallen werdet. Ihr provoziert ja auch die traditionellen Werte in Russland. Viele sagen sowas, um negative Erlebnisse zu rechtfertigen, die anderen passieren. Und sie glauben, dass ihnen das niemals passieren würde, weil sie bestimmten Regeln folgen. Das ist gefährlich und unsolidarisch.
Zwei Gesetze betreffen die LGBTQ-Gemeinschaft in Russland direkt: Es ist zum einen das sogenannte ‚Gay-Propaganda-Gesetz‘. Es untersagt die Verbreitung von Informationen über LGBTQ-Fragen an Minderjährige. Zum anderen gibt es ein Gesetz, das ‚nicht genehmigte öffentliche Demonstrationen‘ verbietet. Es macht es für das russische Volk unmöglich, ihre Stimme auf der Straße zu wichtigen Themen zu erheben. Wer es trotzdem tut, wird verhaftet.
Darüber hinaus bleiben LGBTQ-Teenager meistens ohne jegliche Unterstützung. Die Gesetze behindern den Prozess, LGBTQ-Probleme in der Gesellschaft sichtbar zu machen und die Betroffenen zu unterstützen. Unterschiedliche Organisationen arbeiten mit unterschiedlichen Strategien: Einige verstoßen direkt gegen die von der Regierung festgelegten Regeln, während andere versuchen, ihre Arbeit eher zurückhaltend und unterhalb des Radars zu tun. Ob die Regierung an die Existenz von LGBTQs glaubt oder nicht, ist mir aber egal. Wir sind hier, wir sind queer und wir sind Teil der Gesellschaft.
KS: Wie verbindest du deine Lebensform mit deinem Glauben? Hast du eine christliche Gemeinschaft, die dich unterstützt?
Julie: Ich bin in einer christlich evangelikalen Familie aufgewachsen und selbst gläubige Christin. Ich hatte aufgrund meiner Erziehung eine klare Vorstellung davon, was der Wille und die Stimme Gottes war. Als ich merkte, dass ich eine Frau liebte, war plötzlich alles auf den Kopf gestellt. Aber ich war mir trotzdem sicher, dass daran nichts falsch war. Leider sahen das meine Eltern und ihre Kirche anders. Die vielen negativen Reaktionen machten mir Angst. Ich wurde fast paranoid. Es stresste mich, in meine eigene Kirche zu gehen. Ich hatte das Gefühl, dass alle über mich redeten und versuchten, für die ‚Heilung‘ von Schwulen und Lesben zu beten. So verließ ich im Alter von 20 Jahren meine Kirche. Kurz nachdem ich in Moskau eine andere Kirche gefunden hatte, die ausdrücklich erklärt hatte, dass gläubige LGBTQ willkommen sind, wurden die geistlichen Leiter dieser Kirche entlassen. Daraufhin wurde diese Kirche zu einer Brutstätte für Homofeindlichkeit und Sexismus. Eine Heimat konnte ich dort nicht mehr finden.
Aber obwohl eine andere Kirche für mich nicht mehr in Frage kam, suchte ich weiter nach einer geistlichen Heimat. Ich suchte online nach „LGBT Christians Moscow“ und stieß in einem Online-Forum auf eine Nachricht, in der es um „Light of the World“ ging, eine Gruppe für LGBTQ-Gläubige. Die Nachricht wirkte ein wenig komisch, also schickte ich meine Partnerin, um die Gruppe kennenzulernen. Als sie begeistert zurückkam, ging ich auch dorthin. Und nur einen Monat später reisten wir nach St. Petersburg, um am Forum der LGBT-Christen in Osteuropa und Zentralasien teilzunehmen. Dort fand ich endlich eine Glaubensgemeinschaft, nach der ich mich gesehnt hatte: Wir trafen Theologinnen und Theologen, die eine queere Sicht auf die Bibel präsentierten. Und wir lernten Menschen aus ganz Russland und darüber hinaus kennen, die gemeinsam beten und Gottesdienst feiern wollten und die die verschiedenen Identitäten der anderen respektierten und sich gegenseitig unterstützten. Es war ein wunderbar befreiendes Erlebnis für mich.
Seitdem bin ich Mitglied von "Light of the World", auch wenn mein früherer Glaube nicht mehr existiert. Ich weiß nicht mehr, an was ich glaube. Aber egal was passiert, es ist mir wichtig, dass Menschen wissen, dass das, was sie spirituell brauchen, nur dort zu finden ist, wo sie willkommen sind und wo ihre Form zu glauben nicht infrage gestellt wird. "Light of the World" war und ist für mich ein solcher Ort. Es ist ein Schutzraum. Und ich möchte die Unterstützung, die ich erfahren habe, anderen weitergeben.
KS: Erzähl mir etwas über die Geschichte und die Ziele von „Light of the World“. Wie feiert ihr Freundschaft, Gemeinschaft und Glauben unter dem Regenbogen?
Julie: "Light of the World" wurde 2009 von zwei Freunden, Yana und Yury, und mehreren Gleichgesinnten ins Leben gerufen. Es hat ein paar Jahre gedauert, bis die Gruppe in Schwung gekommen ist. Wir treffen uns zweimal im Monat und leiten die Versammlungen abwechselnd. Wir sind alle Laiinnen und Laien. Jeder kann eine Sitzung anleiten, solange er den anderen nicht seine eigene Sichtweise aufdrängt.
Zu unseren regelmäßigen Treffen kommen zwischen fünf und 15 Personen. Wir singen Lieder, lesen und diskutieren die Bibel, sprechen über soziale und psychologische Fragen, beten füreinander und genießen Tee und Kuchen. Die Versammlungen stehen Menschen aller Glaubensrichtungen, Sexualitäten und Geschlechtsidentitäten offen. Unsere Werte sind Respekt und Akzeptanz.
Am ersten Sonntag jeder Saison veranstalten wir für alle einen Gottessdienst. Er ist von den ökumenischen und interkulturellen Gottesdiensten des Europäischen Forums und des Osteuropäischen Forums inspiriert. Yana veranstaltet darüber hinaus zweimal im Monat Gebetstreffen, die seit einer Weile online stattfinden. Dadurch erhalten diejenigen, die es sich nicht leisten können zu unseren Versammlungen zu kommen, Zugang zu unserer Gemeinschaft. Zum Geburtstag der Gruppe im November laden wir Freund*innen aus anderen LGBTQ-Organisationen in Moskau ein und wir feiern gemeinsam.
Ein weiterer wichtiger Aspekt unserer Gruppe ist das Sammeln und Veröffentlichen von persönlichen Geschichten russischsprachiger LGBTQ-Gläubiger. Wir haben gerade unser drittes Buch veröffentlicht. (Auf Deutsch übersetzt heißt das Buch: „Auf der Suche nach der Wahrheit: Persönliche Geschichten von Gläubigen“, Anm. KS). Sicher finden wir solche Geschichten auch in englischer Sprache. Aber obwohl der Kern der Geschichten ähnlich sein mag, verändert der russische Kontext alles. Für unsere Leser und Leserinnen ist es wichtig zu sehen, dass es auch in Russland LGBTQ Menschen gibt, die gläubig und homo, trans oder queer sind. Wir hoffen, dass diese persönlichen Geschichten diejenigen ermutigen, die nach ihrem Weg suchen.
KS: Was bedeutet das Mentoring-Projekt des Europäischen Forums für dich und wie hat es dein Leben beeinflusst?
Julie: Ich habe schon ein paar Jahre über das Mentoring-Programm Bescheid gewusst, bevor ich bereit war, mich einzuklinken. Ich hatte eine tiefe Glaubenskrise erlebt und fühlte mich durch meine Arbeit und meinen Aktivismus ausgebrannt. Nun bin ich so froh, dass ich den Sprung gewagt habe! Die zwei wertvollsten Aspekte dieses Programms sind meine Mentorin und die Gemeinschaft. Es war mir sofort klar, dass Kerstin Söderblom, meine Mentorin, aufgrund der Klarheit und der geradlinigen Haltung, die sie ausstrahlt, eine perfekte Tandempartnerin für mich sein würde. Sie trug wesentlich zu unseren Treffen bei, da sie queere Bibelinterpretationen vorgestellt und mit der ganzen Gruppe bearbeitet hat. Ich habe ihre Interpretationen ins Russische übersetzt, sie bei unseren Treffen eingebracht und sie dann auf unseren Social-Media-Seiten für Menschen aus anderen russischen Städten und Ländern veröffentlicht. Sie gab auch zahlreiche Ratschläge zu Fragen, die mit der Weiterentwicklung und Leitung der Gruppe zu tun hatten. Außerdem genieße es, mit den anderen Teilnehmer*innen des Programms zusammen zu sein. Wir alle bringen etwas von unseren Qualifikationen und Erfahrungen ein und können voneinander lernen. Es ist beruhigend zu wissen, dass es in ganz Europa Menschen gibt, für die es ein Herzensanliegen ist, LGBTQ-Gläubige in ihrer Region zu stärken. Das Mentoring-Programm unterstützt mich und uns dabei.
KS: Was wünschst du dir für die Zukunft?
Julie: Das Mentoring-Programm wird noch einige Monate andauern. Ich hoffe, bis dahin noch einige queere Re-Lektüren von biblischen Geschichten sammeln und übersetzen zu können. Nicht nur damit unsere Gruppe sie nutzen kann, sondern auch, weil diese Materialien für andere Interessierte in Russland zum Einstieg in die Bibelarbeit für christliche LGBTQ-Gruppen hilfreich sind. Ich werde mich außerdem bemühen, das russische Buch mit persönlichen Geschichten von gläubigen LGBTQ ins Englische zu übersetzen. Ich hätte auch gerne eine deutsche Übersetzung. Schreibt mir also bitte, wenn ihr eine der Kurzgeschichte aus dem Englischen ins Deutsche übersetzen möchtet. Es wäre für uns von unschätzbarem Wert.
"Light oft he World" wurde von einigen christlichen Gläubigen kritisiert, weil sie die angeblichen Sünden der LGBTQ Brüder und Schwestern nicht anklagten. Wir haben uns jedoch zum Ziel gesetzt, "Light of the World" als gastfreundlichen und inklusiven Ort zu gestalten. Es gibt viele Orte, an denen Personen abgewertet, ausgegrenztoder sogar verdammt werden, nur weil sie ihr Leben so leben, wie sie sind. Möge "Light of the World" auch weiterhin ein Schutzraum bleiben, an dem Menschen respektiert werden und in Sicherheit sein können.
Zum Weiterlesen
Kerstin Söderblom, Mentoring auf Augenhöhe (21.02.2018)
Kerstin Söderblom, Wir geben nicht auf! (28.11.2018)