Bergfest
Altar in Warschau
privat
Der Altar in Warschau zum zweiten internationalen Treffen der Mentoring-Gruppe des Europäischen Forums christlicher LSBT.
Am Wochenende vom 22. bis 24. Februar 2019 hat sich die internationale Mentoring-Gruppe des Europäischen Forums christlicher LSBT Gruppen ein zweites Mal getroffen. In Jerewan/Armenien letzten November musste das geplante Treffen abgesagt werden. Nun fand es in Warschau statt.

Das zweite Mentoring-Treffen des Europäischen Forums christlicher LSBT-Gruppen in Jerewan/Armenien konnte im November 2018 nicht stattfinden, da Gewalt und Morddrohungen die Verantwortlichen zur Absage gezwungen hatten. Ich hatte darüber auf kreuz & queer berichtet. Drei Monate später war es umso wichtiger, alle Beteiligten in Warschau zum so genannten Bergfest wiederzusehen. Bis auf eine Mentorin, die erkrankt war, waren alle da. Sie waren aus Russland, Ungarn, Armenien, Polen, Estland, Frankreich, England, der Schweiz, den Niederlanden und Deutschland angereist.

Nachmittags begann die gemeinsame Zeit mit einem Spaziergang durch Warschaus nach dem Krieg wieder aufgebaute Altstadt. Blauer Himmel, eiskalte Winde und -2 Grad Celsius machten es zu einem eisigen Vergnügen. Auch Heiße Schokolade mit Rum änderten daran nichts. Abends gab es ein großes Wiedersehen mit mehr Teilnehmenden, die mittlerweile angekommen waren. Ein Jahr hatten wir uns teilweise nicht gesehen. Zum Bergfest gab es viel zu erzählen. Ende Juni wird der Abschluss und die Auswertung des Mentoring-Prozesses in London stattfinden.

Am Samstag war die Mentoring-Gruppe vollzählig. Es gab Berichte, persönliche und inhaltliche, ein Input über Identitätskategorien, Schubladendenken, Stereotypen und ein Leben in verschiedenen Kategorien und Boxen. Wir diskutierten darüber, inwiefern uns Erwartungen und traditionelle Vorstellungen davon abhielten, diejenigen zu sein, die wir wirklich sein wollten. Identitäts- und Geschlechterkategorien pressen viele der Teilnehmenden in Schubladen, in denen sie keine Luft bekommen. Zugehörigkeit zu einer christlichen Glaubensgemeinschaft verstärkt dabei für die meisten ein Denken in engen Grenzen und Boxen.

Neben der Debatte über Identitätskonstruktionen und Erwartungshaltungen gab es vor allem Zeit für den Austausch unter den Mentor*innen und den Mentees in zwei verschiedenen Kleingruppen. Ziel war es, den Mentoring-Prozess des letzten Jahres aus der jeweiligen Rolle heraus zu reflektieren und auszuwerten.

Fazit des Wochenendes: Ein solches internationales und überkonfessionelles Mentoring-Programm zwischen christlichen LSBT Akteuren in Ost- und Westeuropa wurde von allen Beteiligten als wichtig und bereichernd erlebt. Insbesondere der gemeinsame Weg auf Augenhöhe zwischen den internationalen Tandems und in der Gesamtgruppe war für die Beteiligten ein Gewinn. Das Instrument des Mentorings unterstützt junge haupt- und ehrenamtliche Akteure, ihr zivilgesellschaftliches und kirchliches Engagement zu vertiefen und Leitungsverantwortung zu übernehmen.

Ich bin dankbar Teil der Mentoring-Gruppe zu sein und stolz auf das, was im letzten Jahr in den Tandems und in der gesamten Gruppe gewachsen ist. Es hat einen interkulturellen und ökumenischen Lernprozess angestoßen. Viele kleinere und größere Fragen, Herausforderungen und Projekte wurden je nach Kontext bearbeitet, kreativ gestaltet und begleitet. Eine spannende Lernerfahrung!

Am Sonntagmorgen haben alle Beteiligten mit befreundeten Gästen aus Warschau gemeinsam einen Abschlussgottesdienst gefeiert. Gebete, Predigtmeditation und Abendmahlsliturgie sind erst an dem Wochenende in Resonanz zu den Diskussionen und Reflexionen entstanden. Eine reformierte Pfarrerin aus der Schweiz, eine Trans*Person aus der Metropolitan Community Church in England und ich als evangelische deutsche Pfarrerin führten durch den Gottesdienst mit Freiraum für Klagen, Fürbitten, Dank, Gemeinschaft und viel Musik.

Zum Abschluss meine ursprünglich auf Englisch gehaltene Predigtmeditation für diejenigen, die es interessiert auf Deutsch:

Du bist, wer du bist!

Wer bin ich?
Ich befinde mich in verschiedenen Boxen: Größere, kleinere mit Ecken und Kanten.
einige mit Öffnungen, andere total verschlossen, ohne Luft und ohne Lichteinfall.
Boxen überall.

Wer bin ich?
Eine Frau, Tochter, Schwester, Tante, Partnerin, Freundin.
Eine Lesbe, Sucherin, eine zweifelnde Gläubige, eine glaubende Zweiflerin, eine queere Pfarrerin, Seelsorgerin, professionelle Theologin, leidenschaftliche Aktivistin, eine Deutsche, Sportliebhaberin, fauler Vogel, nicht „Digitale-Native“, über fünfzig, … alt, sehr alt…
Was sagen all diese Etiketten und Boxen über mich?
Ich weiß es nicht.

Aber was ich weiß:
Ich fühle Druck, Erwartungen, ein riesiges Gewicht, das auf meinen Schultern liegt.
Ich versuche, diesen Etiketten und Boxen gerecht zu werden.
Ich versuche, die Erwartungen zu erfüllen.
Und ich fühle mich unzureichend, erschöpft, klein und nicht passend.
Ich passe nicht rein.

Und als Mose den brennenden Busch in der Wüste sah, fragte er Gott:
‚Was soll ich den Menschen in Israel sagen, wer Du bist?‘
Und Gott antwortete: ‚Ich bin, wer ich bin!‘
Ich bin, wer ich bin.
Ich rede mit dir.
Ich bleibe bei dir und segne dich.
Ich bin bei dir, egal ob du es merkst oder nicht.
Ich werde dich aus Sklaverei und Unterdrückung in Ägypten und anderswo führen.
Ich bin anwesend und abwesend.
Ich bin hier und dort,
nah und fern,
verständlich und spürbar,
unverfügbar und jenseits menschlicher Logik.
Ich bin die Kraft der Liebe und der Befreiung.
Ich bin jenseits von Etiketten, Worten und menschlichen Vorstellungen.

Und ich sage dir:
‚Du bist, wer Du bist!‘
Du bist in meinem Bild gemacht.
Ein Kind Gottes, das von Gott geschaffen und gesegnet wurde.
Ich bin, wer ich bin,
jenseits von Boxen und Etiketten.
Und du bist, wer du bist,
jenseits von Boxen und Etiketten.
Würdig, einzigartig und gesegnet.
Jeder und jede einzelne.
Ohne in Boxen und Etiketten passen zu müssen,
ohne Erwartungen erfüllen zu müssen.
Sei einfach, wer du bist,
und sei auf dem Weg.
Denn es ist eine lebenslange Reise.

Und Gott fuhr fort:
Geh und erzähle es den Menschen in Israel und darüber hinaus.
Ich bin, wer ich bin.
Und du bist, wer du bist.
Ein Kind Gottes,
berufen, zu lieben
aufgerufen, Hass, Unterdrückung und Gewalt hinter sich zu lassen,
ermutigt, deine eigene Berufung und deine eigenen Talente und Leidenschaften zu finden,
durch die Liebe Gottes gestärkt.
Damit du dich selbst lieben und deine Nachbarn lieben kannst.
Geh in Frieden und lass die Schubladen zurück!

Amen.