Als „homophoben und gefährlichen Humbug“ bezeichnet der LSVD in einer Pressemitteilung vom 7. Februar die Ende letzten Jahres erschienene Orientierungshilfe "Mit Spannungen umgehen" der Erweiterten Bundesleitung zum Umgang mit Homosexualität in Freien Evangelischen Gemeinden und fordert, diesen Gemeinden den Status als Freier Träger der Jugendhilfe zu entziehen.
Die Reaktion des LSVD ist insofern nachzuvollziehen, als die zentrale Botschaft der Orientierungshilfe tatsächlich ist: „Im Bereich der Freien Evangelischen Gemeinden kann es keine Segnung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften geben, weil diese dem biblischen Leitbild der Ehe zwischen Mann und Frau nicht entsprechen.“ Doch wer die Orientierungshilfe genauer liest, entdeckt durchaus Überraschendes:
Die Orientierungshilfe geht für freikirchliche Verhältnisse erstaunlich weit - insbesondere, wenn sie (in einer Fußnote freilich, S.3, Fn.2) darauf verweist, dass Therapie nicht mehr die seelsorgerliche Standard-Empfehlung sein dürfe. Auch der hermeneutische Schlüssel, die Schrift von der Mitte Christus und seiner Liebe zu den Menschen her auszulegen, impliziert eine Offenheit und Weite, die nicht immer für die freien Evangelischen selbstverständlich war. Leider versäumt es die Orientierungshilfe dann, die Einsicht, dass die biblischen Texte nur homosexuelles Verhalten, nicht aber "gleichgeschlechtliche Orientierung in ihrer Identitätsrelevanz" (S.6, Fn.1) kennen, auf den hermeneutischen Umgang mit den biblischen Aussagen über ethisch verantwortete Beziehungsformen zu beziehen. Dann müsste sie nämlich (ähnlich wie 1994 die EKD-Orientierungshilfe "Mit Spannungen leben") zu einer analogen Anwendung dieser Kriterien auf gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften kommen.
Für die Bundesleitung der Freien Evangelischen Gemeinden steht einer solchen analogen Anwendung aber Röm 1,18-32 entgegen. Bei allem Bekenntnis zur Christus als Mitte der Schrift schlägt hier dann doch ein relativ fundamentalistisches Verständnis des Textes durch. Erstens nämlich wenden die Autorinnen und Autoren ihre eigene Einsicht, dass die Bibel gleichgeschlechtliche Orientierung als Identitätsrelevanz nicht kenne, nicht auf die Auslegung dieses Textes an. These II.12 (S.10f) betont zwar noch, dass Paulus damit alle homosexuelle Praxis als widernatürlich ansehe, These III.6 (S.15) kommt dann aber zu dem Ergebnis, dass also „auch eine auf lebenslange Dauer, Fürsorge und Treue angelegte homosexuelle Lebenspartnerschaft in Widerspruch zu den biblischen Aussagen gegen homosexuelle Praxis steht“. Das ist logisch inkonsequent – und wird interessanterweise im Text selbst an anderer Stelle relativiert, wenn davon die Rede ist, dass „eine solche verbindliche Lebensgemeinschaft (…) ethisch weniger negativ zu bewerten [ist] als homosexuelle Handlungen in wechselnden Partnerschaften“ (S.13). Zweitens aber übersieht diese Auslegung, dass "Natur" bei Paulus ganz starke kulturelle Konnotationen hat - wie Wolfgang Stegemann schon 1993 dargelegt hat (in: Was auf dem Spiel steht, Diskussionsbeiträge zu Homosexualität und Kirche, hrsg. v. Barbara Kittelberger u.a.): In 1. Kor 11 ist es genauso widernatürlich, dass Männer lange und Frauen kurze Haare tragen. Solch „sündhaftes“ Verhalten ist inzwischen aber auch in vielen freien evangelischen Gemeinden zu beobachten…
Diesseits der eben benannten hermeneutischen Grenze lässt die Orientierungshilfe aber ein intensives Umdenken innerhalb der freien Evangelischen erkennen. Dies beginnt mit dem deutlichen Bekenntnis, dass homosexuelle Menschen in freien evangelischen Gemeinden diskriminiert wurden und in manchen Ländern (implizit mitzulesen: auch aufgrund der Haltung dieser Gemeinden) nach wie vor um ihr Leben fürchten müssen. Es folgt die klare Botschaft: „Die Ablehnung homosexueller Praxis darf nicht zur Ablehnung, Diskriminierung oder gar Verfolgung von Menschen führen.“ (S.5) Das möchte man manchen freikirchlichen Gemeinden (nicht nur in Afrika) mal deutlich ins Stammbuch schreiben!
Das Umdenken geht weiter in der bereits angesprochenen deutlichen Neubewertung der Therapierbarkeit von Homosexualität und dem Bekenntnis, dass es „keine medizinische Grundlage [gibt], Homosexualität als Krankheit zu bezeichnen“ (These II.3, S.7), die gleichgeschlechtliche Orientierung vielmehr identitätsrelevant sein könne.
Diese Einsicht hat schließlich auch Auswirkung auf die seelsorgerlichen Empfehlungen. Sie sind durchzogen von dem Plädoyer für eine annehmende Seelsorge: „Homosexuell empfindende und geprägte Menschen bedürfen angesichts persönlicher Ablehnung, die sie zum Teil in Gesellschaft, Beruf, Familie, aber auch in der Gemeinde leider noch erleben, der Erfahrung von Solidarität und Gemeinschaft.“ (These III.9, S.15) Seelsorgin oder Seelsorger sollten daher weder moralistisch noch libertinistisch agieren, sondern in erster Linie zuhören und dem Gegenüber ermöglichen, die eigenen ethischen Konflikte zu benennen und zu einer eigenen Urteilsbildung zu kommen (These III.11, S.16). Die Gemeinden schließlich werden aufgefordert, einen „konstruktiven Dialog“ auch mit queeren Gemeindegliedern zu führen – mit der gegenseitigen Bereitschaft zum Perspektivwechsel (S. 14).
Bedeutsam ist schließlich auch die Einsicht: „Ein Konflikt in Bezug auf ethische Überzeugungen ist nicht immer so zu lösen, dass durch konstruktiven Dialog zu einer gemeinsamen biblischtheologischen Beurteilung gefunden wird. Ein solcher Dissens sollte von Standards begleitet sein, die das gemeinsame Leben trotz unterschiedlicher ethischer Überzeugungen in gegenseitiger Achtung regeln.“
Ich wünsche dem Bund der Freien Evangelischen Gemeinden, dass sie in solch gegenseitigem Respekt den eingeschlagenen Weg weiter gehen!