Alles queer?
Queer avanciert zu einem Modewort. Das ist problematisch, denn es beraubt den Begriff seiner Eigenschaft als wichtiges Kritikinstrument im Kampf um die Gleichheit der Sexualitäten und Geschlechter. Wer queer verwendet, sollte auch queer meinen.

Queer war noch bis vor wenigen Jahren ein eher unbekanntes Wort. Außerhalb von emanzipatorischen Bewegungskontexten oder der akademischen Geschlechterforschung ist der Begriff kaum verwandt worden. Und selbst dort führte er teilweise ein Nischendasein. Dies ändert sich heute zunehmend. Schaue ich etwa auf die Facebook-Seite des Mannschaft Magazin, das sich selbst als "Zeitschrift für den schwulen und bisexuellen Mann von heute" definiert, lese ich dort in den Überschriften der diversen Artikel etwas über queere Sichtbarkeit, queeres Altern oder auch queere Arbeitnehmende. Dieser Trend zeichnet sich nicht nur in der einschlägigen Presse ab. Auch der Spiegel schrieb unlängst über queere Pflege, der Tagesspiegel über queere Medienschaffende und die BILD über queere Menschen.

Als Vertreter der Queertheorie sehe ich diese Entwicklung höchst skeptisch. Die inflationäre Verwendung von queer geht mit einer  fortschreitenden Entkernung des Begriffs einher. Und diese Entkernung ist für den Kampf um die Emanzipation der Geschlechter und Sexualitäten kontraproduktiv.

Etymologisch betrachtet handelte es sich bei der, aus dem Englischen stammenden Vokabel queer zunächst um ein Schimpfwort, das unter anderem verrückt oder sonderbar bedeutet und daneben insbesondere eine diskriminierende Betitelung für homosexuell begabte Menschen war. Die US-amerikanische Lesben- und Schwulenbewegung hat den Begriff schließlich positiv umgedeutet. Nach ihr drückt er jetzt so viel aus wie: Ja, wir sind anders als die Mehrheitsgesellschaft, wir fallen aus dem (Bilder-)Rahmen, aber das gerahmte Bild bewerten wir ohnehin als unterdrückend und deshalb wollen wir auch gar nicht Teil von ihm sein, wollen nicht gerahmt werden! Wenn, dann wollen wir eher den Rahmen sprengen, also die Gesellschaft grundsätzlich verändern. Bereits hier wird deutlich, dass mit queer ein höchst progressiver, durch und durch kritischer Ansatz gemeint ist. Der Begriff beinhaltet ein Hinterfragen von Ausgrenzungsmechanismen, die unser Zusammenleben immer noch wesentlich bestimmen. In diesem Zusammenhang weist die Politikwissenschaftlerin Corinna Genschel ausdrücklich darauf hin, dass queer "auch nicht primär als Gegensatz zu heterosexuell oder als Synonym von lesbisch-schwul zu verstehen" ist. Es geht bei queer gerade nicht darum, eine neue Identität, ein neues Subjekt zu schaffen, nach dem Prinzip: Wir, die Homosexuellen und die Anderen, die Heterosexuellen. Die Idee queer fragt stattdessen danach, wie es funktioniert, dass Menschen überhaupt erst in solche Gruppen eingeteilt werden. Warum wird ein Mann, der einen anderen Mann liebt als schwul bezeichnet? Und warum werden ihm aufgrund dieser Benennung bestimmte Charaktereigenschaften zugeschrieben? Weshalb entscheidet die sexuelle Präferenz der Eltern darüber, ob sie im Erziehungsrecht privilegiert oder benachteiligt werden? Im Kern geht es um die Frage, warum und mit welchen Mitteln zur universellen Norm erhoben wird, dass es vermeintlich zwei klar voneinander trennbare biologische Geschlechter gibt, die sich in dichotomen Charaktereigenschaften (weiblich, männlich) zeigen und im wechselseitigem sexuellen Begehren des anderen Geschlechts verwirklichen. Queere Bewegungen stellen genau diese Heteronormativität infrage. Es geht darum die Herstellungsmechanismen der Heteronormativität aufzudecken, zu benennen, abzuschaffen oder zu verändern. Dabei greifen die Aktivist_innen immer wieder auch auf die Erkenntnisse der Queertheory zurück, die sich der wissenschaftlichen Erforschung dieser Fragen widmet.

Wer den Begriff queer benutzt, sollte sich daher vorher darüber im Klaren sein, welchem Anspruch mensch sich damit verpflichtet. In vielen Fällen scheint dies jedoch nicht oder nur sehr wenig zu geschehen. So nannte sich etwa die Arbeitsgemeinschaft der Lesben und Schwulen in der SPD (Schwusos) im Jahr 2016 um. Sie führt seitdem den Kurztitel SPDqueer. Eine grundlegende programmatische Erneuerung, die radikal die herrschenden Kategorien von Geschlecht und Sexualität hinterfragt, blieb allerdings bis heute aus. Es scheint bei der Namensänderung vielmehr darum zu gehen, neben den homosexuell begabten, auch solche Menschen, die transgeschlechtlich, transsexuell und/ oder intergeschlechtlich sowie bisexuell begabt sind, in die Betitelung der Arbeitsgemeinschaft mit einzubeziehen und sie unter dem Label queer zu vereinen, ohne sie dafür eigens erwähnen zu müssen. Nicht anders stellt es sich bei den oben genannten Pressezitaten dar. Egal, ob es um "queere Sichtbarkeit", "queere Medienschaffende" oder queere Arbeitnehmende geht, immer ist hierbei die Gruppe der Menschen gemeint, die in irgendeiner Weise nicht dem heteronormativen Ideal entsprechen. Doch eben das ist nicht queer! Im Gegenteil, hier wird eine neue Schublade, eine neue Kategorie, ein neues Negativ zum heteronormativen Positiv formuliert. Alle, die nicht dem heteronormativen Ideal entsprechen, werden nun in eine gemeinsame Schublade geworfen. Dadurch werden die Unterschiede zwischen den verschiedenen Gruppen und Individuen in dieser Schublade verdunkelt. Darüber hinaus besteht die Gefahr, dass die Heteronormativität nach dem Motto "Ausnahmen bestätigen die Regel" durch so eine neue Schublade ungewollt gestärkt wird. Der Begriff queer wird so ausgehöhlt und gegen seine ursprüngliche politische Intention immer weiter umgedeutet. Indem die Bewegungen, die um die Gleichheit der Geschlechter und Sexualitäten kämpfen, dabei mitmachen, berauben sie sich einem wichtigen (begrifflichen) Kritikinstrument.

Immer öfter wird das Wort queer als vermeintliche Lösung verwandt, um das Akronym LGBTTIQ* zu ersetzen. Klar, queer klingt einfacher, kompakter, attraktiver, suggeriert Inklusion. Doch was ist der Preis für seine Verwendung in diesem Sinne? Queere Kritik stellt die zentrale Frage nach der Legitimation der Hegemonie der Heteronormativität in Gesetzen, Traditionen, Konventionen, und das in allen gesellschaftlichen Bereichen von der Kindertagesstätte bis zum Altenheim, von der öffentlichen Verwaltung bis zur Kirche. Wichtiges Instrument dabei ist es, immer wieder aufzuzeigen, dass das heteronormative Ideal als universalistisch angelegtes Prinzip, das auf alle Menschen gleichermaßen angewendet wird, eine Illusion und große Ungerechtigkeit ist. Es ist eben nicht jeder Mensch so geschaffen, dass seine Organe den binären Kategorien weiblich und männlich entsprechen. Intersexuelle sind die Realität, die diese Konstruktion widerlegen. Es ist eben nicht so, dass, wer nach ärztlichen Richtlinien als Frau definiert wird, auch eine Frau ist. Transsexuelle Männer und Frauen sind die Realität, die diese Konstruktion widerlegen. Und es ist eben nicht so, dass Männer natürlicher Weise Frauen sexuell begehren. Homo- und bisexuelle Männer sind die Realität, die diese Konstruktion widerlegen. Diese Aufzählung ließe sich noch lange fortsetzen. Wichtig ist, jeder einzelne Buchstabe im Akronym LGBTTIQ* symbolisiert Vielfalt, eine Vielfalt, die von der heteronormativen Ideologie geleugnet wird und sie daher infragestellt. Deshalb muss aus einer queeren Perspektive immer wieder auf die Vielfalt von Geschlecht und Begehren aufmerksam gemacht werden. Gleichzeitig ist die  Willkür, Menschen entlang ihres Geschlechtes oder entlang ihres Begehrens in Kategorien zu sortieren, herauszustellen und zu kritisieren.

Nun ergibt sich daraus allerdings ein Widerspruch: Vielfalt soll sichtbar gemacht werden, hierzu ist es jedoch zunächst notwendig, Vielfalt auch zu benennen. Dadurch entstehen bzw. verfestigen sich Kategorien, wie etwa Homosexuelle als Gegensatz zu Heterosexuellen. Genau das scheint dem queeren Anliegen einer Infragestellung des Sortierens von Menschen entlang von Kategorien des Geschlechts und der Sexualität offenkundig zu widersprechen. In der Tat stehen wir hier von einem Paradox. Denn um die Kategorien abzuschaffen, müssen sie zunächst einmal besonders betont, besonders sichtbar und virulent gemacht werden. Durch das fortwährende Betonen, dass unsere Körper, unsere Geschlechter, unser Begehren nicht so eindeutig sind, wie uns die heteronormative Ideologie glauben machen will, wird der Mythos der Heteronormativität langsam, aber stetig ausgehöhlt. Das heißt, wenn es eines Tages wirklich egal sein soll, wer wen liebt, dann gilt es heute, wo die Heteronormativität noch das Maß aller Dinge ist, immer und immer wieder etwa homosexuelle Liebe sichtbar zu machen. Solange bis das Starkmachen dieser Kategorie die Hegemonie der Heterosexualität überwindet und eine Egalität der Sexualitäten in der Gesellschaft erreicht ist. Parallel dazu sollte neben der Sichtbarmachung der Vielfalt der Identitäten zugleich die Kategorisierung entlang des Geschlechts und/oder Begehrens aber generell immer auch problematisiert werden. Diese Gleichzeitigkeit von Betonen und Kritisieren ist immer wieder eine Gradwanderung.

Das Bestreben, LGBTTIQ* oder welche Abwandlungen davon auch immer, gegen den Begriff queer zu ersetzen, wirkt auf mich, wie ein unsichtbarer Ordnungsruf. Hinter dem schlichten praktischen Argument des einen Begriffs statt vieler Buchstaben, scheint eine Mahnung zur Vereinfachung zu stehen. Ein: Vielfalt ist ja gut und schön, aber übertreibt es jetzt mal nicht. Es soll eben nicht zu präsent werden, dass die Heteronormativität eine Illusion ist. Unsere Gesellschaft ist auf diesem Mythos aufgebaut, wir alle haben diesen Glauben in unserer Sozialisation eingeprägt bekommen, er durchdringt, ob wir wollen oder nicht, unser Denken und unsere Körper. Abweichende, alternative Konzepte von Gesellschaft lösen darum fundamentale Dissonanzen aus, die viele Menschen nur schwer aushalten können – selbst dann, wenn sie unter den heteronormativen Kategorien leiden. Ein L und S, ja, das können viele noch ertragen, diese vermeintlichen Sonderkategorien mag es geben, vielleicht auch noch ein I, aber, müssen es noch zwei T und ein Q mit einem Stern sein? Und selbst innerhalb der emanzipatorischen Bewegungen können viele den Gedanken kaum aushalten, dass sich noch weitere Buchstaben hinzugesellen könnten. Doch eben das ist ein zutiefst queerer Ansatz, so lange und immer wieder, gegen alle Widerstände, auf die Vielfalt von Geschlecht und Sexualitäten hinweisen, bis die Ideologie der Heteronormativität in sich zusammenfällt. Das ist nicht einfach, es ist anstrengend, aber letztlich lohnend. Es ist der konsequente Weg aus dem Dasein als Sonderfall menschlicher Existenz, hin zur Gleichheit und Freiheit.

 

Literaturtipps:

Jagose, Annamarie. (2001). Queer theory (1. Aufl.). Berlin: Querverl.

Genschel, Corinna. (1996). Fear of a Queer Planet: Dimensionen lesbisch-schwuler Gesellschaftskritik. In: Das Argument 216. 38. Jg., H. 4, S. 525-538