Wie meinen, Frau Karliczek?
Statt sich auf wissenschaftliche Fakten zu stützen, bleibt Bundesbildungsmisterin Karliczek in ihrer Ablehnung der Ehe für alle lieber im Vagen. Ihr Nein begründet sie nicht konkret, sondern beschwört stattdessen abstrakte Bedrohungen herauf, wenn Kinder bei gleichgeschlechtlichen Eltern aufwachsen. Ein gefährliches Verhalten, das Ungleichheit legitimiert und damit letztendlich auch dem Hass gegen homosexuell begabte Menschen den Boden bereitet.

Tumult im Bundestagsplenum. Mitten in der Befragung der Bundesregierung. Bundestagsvizepräsidentin Roth versucht den Tumult mit den Worten zu beenden: "Frau Karliczek antwortet wie sie will". Dieser Szene vorausgegangen waren Fragen des Abgeordneten Kai Gehring (B´90/GRÜNE). Anlass für seine Erkundigungen ist ein Interview, das Bundesbildungsministerin Karliczek wenige Tage zuvor gegeben hat. Darin erklärte sie, dass es bei ihrer Ablehnung der Ehe für alle für sie nicht darum gehe, ob Kinder in gleichgeschlechtlichen Partner_innenschaften glücklich, sowie gut aufgehoben und erzogen seien. Ihr Punkt sei es, dass mit der Öffnung der Ehe "grundsätzlich Strukturen unserer Gesellschaft, mal eben so im Federstrich" verändert würden. Ihrer Ansicht nach müssten Kinder das "emotionale Spannungsfeld zwischen Vater und Mutter" erleben, um sich gut zu entwickeln. Des Weiteren forderte die Politikerin Langzeitstudien zur Auswirkung der Geschlechtlichkeit der Eltern auf deren Kinder. Auf die Erklärung des Interviewers, dass es solche Untersuchungen bereits gibt, unter anderem eine im Auftrag des Bundesjustizministeriums und dass diese gefunden habe, dass Kinder mit gleichgeschlechtlichen Eltern sich etwa durch ein höheres Selbstwertgefühl und Autonomie abheben, ging die Ministerin inhaltlich nicht ein. Auch Gehring konfrontierte Karliczek im Bundestag damit, dass schon zahllose Studien zu Kindern in nicht-heterosexuellen Familien vorliegen. Der Abgeordnete fragte die Ministerin, ob sie diese Untersuchungen inzwischen gelesen habe. Erneut verweigerte die Politikerin eine Antwort in der Sache. Stattdessen erinnerte sie an das Recht auf Meinungsvielfalt und Toleranz, in dem sie sich offenkundig durch die Nachfrage des bündnisgrünen Politikers eingeschränkt sehen wollte.

Eine Analyse von Frau Karliczek Argumentations- und Diskussionsverhaltensmustern ist äußerst fruchtbar, da hieran Strategien aufgezeigt werden können, mit denen immer wieder versucht wird, die Gleichberechtigung nicht-heterosexuell Liebender zu verhindern. Da ist zunächst die Berufung auf die Meinungsvielfalt. In der Tat, jeder Mensch darf seine Meinung frei äußern, so steht es im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland und das ist richtig, wichtig und gilt selbstverständlich auch für Frau Karliczek in ihrer Ablehnung der Ehe für alle. Die Frage allein ist allerdings, wer will sie eigentlich in diesem Recht einschränken? Der Abgeordnete Kai Gehring? Der Interviewer? Ich? Oder alle anderen, die Frau Karliczek für ihre Äußerungen in den letzten Tagen stark kritisiert haben? Das ist mitnichten der Fall. In ihrer knappen Antwort vermengt die Ministerin zwei grundsätzlich verschiedene Dinge. Das eine ist das individuelle Grundrecht auf die freie Äußerung der eigenen Meinung, das andere ist das Recht aller Anderen, diese frei geäußerte Meinung ihrerseits in ebenfalls frei geäußerter Meinung kritisieren zu dürfen. Genau davon haben etliche Personen nun gegenüber Frau Karliczek Gebrauch gemacht. Selbstverständlich hat dieses Recht seine Grenzen, immer da wo die andere Person beleidigt, bedroht oder mit Hassreden überzogen wird. Doch das ist gegenüber Frau Karliczek nicht passiert. Sie mit der Tatsache zu konfrontieren, dass es die Studien, deren Nichtvorhandensein die Bildungsministerin kritisiert, bereits mannigfaltig gibt, mag für sie peinlich, entlarvend oder auch diskreditierend sein, aber illegitim ist das sicherlich nicht – im Gegenteil. Das wäre ja gerade so, als ob ich in einer Klausur an der Universität irrtümlich schreibe, dass es zu einem Thema keine Studien gibt und wenn die Professorin mir dann eine schlechte Note gibt, ich diese Bewertung als Einschränkung der Meinungsfreiheit zurückwiese. Halten wir also fest: Wer eine eigene Meinung in der Öffentlichkeit formulieren und verteidigen will, muss sich auch der Kritik stellen. Diese Kritik als Einschränkung der Meinungsfreiheit zu verbrämen, ist ein häufig unternommener Versuch, die Kritiker_innen mundtot zu machen und deshalb ist dieser Versuch auch als solcher zu benennen und abzuwehren.

Während das erste antiemanzipatorische Argumentations- und Diskussionsverhaltensmuster ein eher strukturelles ist, handelt es sich bei dem zweiten, das ich hier aufzeigen möchte, um ein stärker inhaltlich definiertes. Eine gängige Strategie vieler Berufspolitiker_innen ist es, in Situationen, in denen sie unhaltbare Positionen vertreten, immer nur so viel davon als falsch einzuräumen, wie unbedingt nötig ist, um noch glaubhaft bleiben zu können – viele nennen das die Salamitaktik. Diesem Ansatz folgt auch die Bildungsministerin, wenn sie erklärt, nicht bestreiten zu wollen, dass die Kinder gleichgeschlechtlicher Eltern ebenfalls glücklich, behütet und wohl erzogen aufwachsen. Diese Realität ist inzwischen so wenig abstreitbar, dass sich selbst die erbittertsten Gegner_innen homosexueller Gleichberechtigung davor scheuen, dergleichen zu behaupten - jedenfalls dann, wenn ihnen daran gelegen ist, im Gros der Öffentlichkeit noch ernst genommen zu werden. Weil die Konkretion der vermeintlichen negativen Folgen nicht-heterosexueller Elternschaft mittlerweile außerhalb des Sagbarkeitsfeldes liegt, weichen viele Akteur_innen auf die Behauptung einer nebulösen, schwer greifbaren, kaum fassbaren und doch alles bedrohenden Gefahr, die von der Homosexualität ausgehe, aus. Auch Frau Karliczek verhält sich so. Sie besteht darauf, dass es Dinge im Leben gibt, die wir als Menschen nicht wahrnehmen, weil sie subtil sind. Gleichwohl, so macht sie deutlich, seien diese Dinge sehr wichtig. Das ist einerseits kaum bestreitbar, auch aus wissenschaftlicher Perspektive, anderseits aber auch ein Allgemeinplatz. Abheben will sie mit den wichtigen subtilen Dingen auf das von ihr postulierte "emotionale Spannungsfeld zwischen Vater und Mutter", das Kinder ihrer Meinung nach erleben müssen, um sich gut zu entwickeln. Was dieses Spannungsfeld genau ist, das kann sie auf Nachfrage nicht wirklich erklären. Statt einer Erläuterung bringt sie nun dieses ominöse Spannungsfeld mit grundsätzlichen Strukturen der Gesellschaft in Verbindung, die ihrer Ansicht nach durch die Ehe für alle verändert würden. Auch was sie mit diesen Strukturen meint und was sich da genau verändert, beschreibt die Politikerin nicht. Genau das ist die Strategie der Bildungsministerin: Nebulöse, inhaltlich ungeklärte Begriffe zum Dreh- und Angelpunkt ihrer Argumentation zu machen. Das Operieren mit diesen Worthülsen ermöglicht es ihr, die vorhandenen Studien zum Thema übergehen zu können, weil diese vermeintlich nicht genau das erforschen, was Karliczek umtreibt. Die Ministerin nutzt also die von ihr erfundenen Begriffe, um darüber ihre Verweigerung, Stellung zu wissenschaftlichen Erkenntnissen zu beziehen, die ihre Position infrage stellen könnten, zu legitimieren. Das ist eine Abwehr des Faktischen zur Etablierung des Postfaktischen. Darüber hinaus erlauben ihr die Worthülsen, Sachverhalte zu implizieren, die sie in ihrer Konkretion nicht aussprechen kann, weil diese außerhalb des gesellschaftlichen Sagbarkeitsfeldes liegen. Denn das behauptete fehlende Spannungsfeld zwischen Vater und Mutter weckt selbstverständlich Assoziationen mit der Vorstellung von zwei dichotomen Geschlechtscharakteren, die Menschen, in Frau Karliczek Weltsicht, natürlicherweise herauszubilden haben und die nur in Familien mit heterosexuellen Eltern entwickelt werden können. Das heißt, die Bildungsministerin stellt hier nichts Anderes als die Frage in den Raum, ob aus Jungen mit gleichgeschlechtlichen Eltern auch "richtige Männer" werden können - dasselbe gilt analog für Mädchen. Satirisch bringt es die ZDF heute Show auf den Punkt, wenn  Christian Ehring dort sagt: "Frau Karliczek möchte von der Forschung wissen: Kann ein Junge, der bei schwulen Vätern lebt, trotzdem vernünftig Fußball spielen? Kann ein Mädchen, das bei Lesben aufwächst, trotzdem gut kochen?" Die Bildungsministerin belässt es jedoch nicht bei der Implikation solcher Fragen nach punktuellen Aspekten der Entwicklung geschlechtsstereotypen Verhaltens. Sie geht noch viel weiter, indem sie behauptet, die Ehe für alle und damit auch nicht-heterosexuelle Elternschaft verändere "grundsätzlich Strukturen unserer Gesellschaft". Karliczek warnt demnach vor einer negativen Entwicklung, die die Gesellschaft in ihren Grundfesten erschüttert. Es ist keineswegs verwunderlich, dass sie dafür Beifall von Seiten der AfD und der sogenannten Demo für alle bekommt. Denn auch diese sprechen immer wieder von einem geplanten Umbau der Gesellschaft (bspw. Gabriele Kuby), prophezeien eine düstere Zukunft und lassen dabei ebenfalls in der Regel offen, was damit genau gemeint ist.

Die aufgezeigte Strategie des Heraufbeschwörens einer nebulösen Gefahr ist ihrerseits gefährlich, denn homosexuell begabten Menschen wird hier die Rolle einer Gefahr für die gesamte Gesellschaft zugewiesen. Parallelen zu antisemtischen Argumentationsmustern, in denen Personen jüdischen Glaubens oder jüdischer Herkunft Schuld an allem Leid auf der Welt gegeben wird, liegen auf der Hand. Homosexuell Begabte als eine Gefahr für das Zusammenleben zu konstruieren, ist die Ideologie, auf deren Basis gleichgeschlechtliche Liebe diskriminiert, bedroht, bekämpft, kriminalisiert und auch mit dem Tode bestraft wird. So wird beispielsweise das Verbot, dass schwule und lesbische Liebende in Russland nicht öffentlich sichtbar sein  dürfen mit dem Schutz der traditionellen Familie, also der heteronormierten Familie begründet. Solche Restriktionen scheinen in Deutschland aktuell fern und sie werden auch Frau Karliczek fern liegen. Die Entwicklung geht trotz Rückschlägen und zäher Kämpfe eher in die positive Richtung. Doch auch bei uns leben viele homosexuell Begabte in ständiger Angst vor Gewalt und Ausgrenzung oder aber erfahren sie beständig – so vergeht etwa kaum ein Tag, an dem nicht über Körperverletzungen gegen Nicht-Heterosexuelle berichtet wird. Und die Ideologie, auf deren Basis, die Unterdrückung homosexuell Begabter stattfindet, die ist allerorts dieselbe, ob sie sich nun in gesetzlichen Restriktionen in Russland zeigt oder an einem an den Rand des Suizids gemobbten, gleichgeschlechtlich liebenden Jugendlichen in einer deutschen Schule. Immer schwingt im Hintergrund das tief verankerte Narrativ der Homosexualität als Gefahr, die abzuwehren ist. Deshalb ist es unbedingt notwendig, sich gegen diese Erzählung zu stellen. Hierzu gehört es insbesondere, jedem Versuch der Diskreditierung des Projektes der Gleichstellung homosexuell Begabter konsequent zu vereiteln. Der Moderator in dem Interview mit Frau Karliczek verfolgt diesen Ansatz schon ganz gut, wenn er die Ministerin fragt, was sie denn mit dem Spannungsfeld zwischen Vater und Mutter meint – schade nur, dass er nicht noch einmal nachhakt, als sie darauf kaum überzeugend antwortet. Eine der größten Waffen, die uns in Kampf um Gleichheit zur Verfügung steht, ist das konsequente und beharrliche Nach- und Hinterfragen. Belassen wir es nicht bei den anti-homosexuellen Implikationen, die Menschen machen. Wer sich gegen Gleichheit ausspricht, der muss sich auch erklären und darf nicht damit davon kommen, wenn er beharrliches Nachfragen plötzlich als eine Einschränkung der Meinungsvielfalt abzuwenden versucht. Denn das Gegenteil ist ja der Fall. Ich beziehe mich ja auf die geäußerte Meinung, für die die Person von der sie stammt, Verantwortung übernehmen soll. Ein legitimer Anspruch, insbesondere an eine Bundesbildungsministerin. Sollte sich Karliczek dem noch länger verweigern,  müssen ihre Aussagen auch weiterhin in aller Deutlichkeit  kritisiert und zurückgewiesen werden. Auch die Anfrage, ob ein Mensch, der erst Gefährliches in die Welt setzt und dann keine Verantwortung für seine Worte übernehmen will, in einem Amt verbleiben kann, in dem er zum Wohle aller Bürger_innen handeln muss, muss gestellt werden.