Am 6.10.1998 hatte der Student Matthew Shepard zwei Studenten in einer Bar auf dem College Campus der University of Wyoming kennen gelernt und sie nachts gebeten ihn nach Hause zu fahren. Er wurde auf der Fahrt ausgeraubt und 18 Mal mit einer Pistole auf den Kopf geschlagen. Dann wurde er von den beiden mit seinen eigenen Schnürsenkeln an einen Zaun gefesselt, halbtot geschlagen und hilflos zurückgelassen.
18 Stunden nach der Tat wurde er von zwei Radfahrern entdeckt. Sie hielten ihn zunächst für eine Vogelscheuche, die an einen Zaun gebunden war. Er wurde in ein Krankenhaus gebracht. Doch Matthew erwachte nicht mehr aus seiner Bewusstlosigkeit und verstarb im Krankenhaus.
Als der Mord öffentlich wurde, gab es in mehreren Städen der USA und darüber hinaus spontane Mahnwachen, Trauermärsche und Demonstrationen. Ich selbst erinnere mich noch gut daran, wie ich in New York auf einen Trauermarsch ging. Ich habe 1998/1999 in New York gelebt und im Büro des Lutherischen Weltbundes im Church Center for the United Nations in Manhatten gearbeitet.
Ich war völlig fassungslos und geschockt, als ich die Nachricht über den brutalen Mord erfahren habe. So ging es Tausenden anderen auch. Wir trafen uns für einen spontanen Trauermarsch mit anschließender Kundgebung am Union Square in Manhatten und zogen bis zum Washington Square. Wir wurden von Hunderten Polizisten des New York Police Departments (NYPD) mit Helmen, Schildern und Schlagstücken begleitet. Sie behandelten uns wie Schwerverbrecher. Dabei waren wir eine bunte Gruppe von Menschen, jung und alt, homo, hetero und queer, Männer und Frauen, schwarz und weiß, die spontan über ein Opfer eines homofeindlichen Gewaltverbrechen trauerten. Und wir wollten unserer Trauer, aber auch unserer Wut auf die brutale und sinnlose Gewalt friedlich Ausdruck verleihen. Ca. 20 Demonstranten und Demonstrantinnen wurden im Laufe des Trauermarsches festgenommen und in bereitstehenden Bussen des NYPD abtransportiert. Der Trauermarsch für einen ermordeten schwulen Studenten war damals selbst im liberalen New York in den Neunzigern unbequem und unerwünscht. Man wollte keinen Schwulen zum Märtyrer machen. Weder in New York noch anderswo.
Darüber hinaus fanden auch Gegendemonstrationen statt. Sie wurden von Leute organisiert, die die zwei Mörder unterstützten. Denn ein Schwuler komme früher oder später sowieso in die Hölle. Und er sei aufgrund seines perversen Lebenswandels selber schuld an seinem Tod. Am Straßenrand in Manhatten wurden auch wir bespuckt und angepöbelt. Aber ebensoviele zeigten sich solidarisch und schlossen sich dem Trauermarsch an.
Die Atmosphäre in den Wochen nach dem Mord an Matthew Shepard war aggressiv und angespannt. Das Thema Homosexualität wurde in den Medien, in Kirchen und auf der Straße kontrovers diskutiert. Emotionen kochten über. Einigen konnte man sich nicht. Nicht einmal angesichts eines ermordeten jungen Studenten.
Ich war damals sehr verstört. Bis dahin hatte ich New York gerade gegenüber Lesben, Schwulen, Bi-, Trans*- und Inter*Menschen sehr liberal und offen erlebt. Es gab Clubs, Bars und Beratungszentren. Ich konnte nicht fassen, dass es selbst in New York anlässlich eines so brutalen Mordes auch aggressive Störer gab,die den Trauermarsch zu stoppen versuchten.
Als ich eine Wochen später einen Memorial Service für Matthew Shepard in der Kapelle des Church Centers durchführen wollte, wurde mir das verboten. Das Thema sei zu kontrovers und auch bei den verschiedenen christlichen Konfessionen und säkularen Nichtregierungsorganisationen, die im Churchhouse ihre Büros hatten, sehr umstritten. Um den Hausfrieden zu wahren, sollte daher eine solche Gedenkfeier nicht in der Kapelle des Churchhouse stattfinden. Ich konnte das nicht verstehen. Ich wollte ja niemanden zwingen dahin zu kommen. Es sollte lediglich ein Angebot für all diejenigen sein, die dort zum Trauern und Erinnern hinkommen wollten. Es war nicht möglich. Ich wurde noch trauriger. In kleiner Runde feierten wir die Gedenkfeier schließlich im Wohnzimmer eines befreundeten Kollegen. Es war berührend, intensiv und tröstlich. Aber es war auch beschämend, dass wir dafür im Umfeld der Vereinten Nationen keine Kapelle finden konnten.
Heute ist das Gott sei Dank anders. Die meisten christlichen Kirchen zumindestens in Westeuropa und Nordamerika stehen dem Thema mittlerweile aufgeschlossen gegenüber. Viele Kirchen bieten Segensgottesdienste für gleichgeschlechtliche Partnerschaften an und stellen queere Geistliche ein. Das war damals noch nicht so.
Die Eltern von Matthew gründeten daher bereits im Dezember 1998 die Matthew Shepard Foundation. Sie hat zum Ziel, Hass und Gewalt durch Verständnis, Mitgefühl und Akzeptanz zu ersetzen. Außerdem tritt die Stiftung für die Rechte von Lesben, Schwulen, Bi*-, Trans*- und Inter*-Personen ein.
20 Jahre nach dem brutalen Mord wird am 26. Oktober 2018 ein zentraler Gedenkgottesdienst in der Episkopalen Washington National Cathedral gefeiert werden. Danach wird Matthews Sarg in die Krypta der Kathedrale umgebettet. Dort wird er neben ca. 200 anderen US-Amerikanischen Persönlichkeiten, wie Helen Keller, ihre Lehrerin Anne Sullivan, wie der 28. Präsident der USA Woodrow Wilson und viele andere, seine letzte Ruhe finden.
Matthews Mutter Judy Shepard kommentierte diesen Schritt so:
„Wir haben lange darüber nachgedacht, wo sein letzter Ruheplatz sein sollte. Wir fanden, dass Washington National Cathedral eine ideale Wahl ist. Denn Matt liebte die Episcopale Kirche und fühle sich in der Episcopalen Kirche in Wyoming auch als schwuler Mann willkommen. In den letzten 20 Jahre haben wir Matthews Geschichte mit der Welt geteilt und überall erzählt. Es ist tröstlich zu wissen, dass er nun an einem solch heiligen Ort liegen wird. Dort können Menschen hinkommen und darüber nachdenken, wie sie eine sichere und freundlichere Welt schaffen können.“
(Übersetzung K.S., Washington National Cathedral, 11. Oktober 2018).
Die Bischöfin Mariann Edgar Budde der Episcopal Diocese of Washington und Bischof Gene Robinson, der erste schwule Bischof der Episcopalen Kirche weltweit, werden den Gedenkgottesdienst halten. Das mediale Echo auf den Gottesdienst zeigt: Es ist wichtig inne zu halten und zu erinnern. Erinnerungs- und Trauergottesdienste können dabei helfen den Trauernden einen Raum anzubieten und die Verstorbenen zu ehren. Sowohl direkt nach schlimmen Unfällen oder Gewalttaten, um Trauer, Schock, Wut und Anteilnahme ausdrücken zu können. Aber auch zwanzig Jahre danach.
Ziel ist es, weit über Gottesdienste hinaus eine klare Botschaft auszusenden: Matthew ist nicht umsonst gestorben! Sein Leben wird erinnert und sein Vermächtnis weiter gegeben: Es geht um den Einsatz für eine offene und respektvolle Welt für alle Menschen, unabhängig von ihrer Herkunft, Hautfarbe, sexuellen Orientierung und Geschlechtsidentät. Matthew Shepard und Tausende andere Opfer von Hass und Gewalt sind nicht vergessen.