Für viele ist der Begriff queer mit all seiner Anwendungsvielfalt aus dem täglichen Leben nicht mehr wegzudenken. Für andere ist Queer ein Ärgernis, weil sie befürchten, dass es lesbische, schwule, bisexuelle und trans Lebensrealitäten etwa durch ein trendiges Über-Label verwischen könnte. Wieder andere fragen sich jedes Mal erneut, was Queer eigentlich bedeutet. Der Begriff und das dahinterstehende Konzept brauchen in der Tat viel Erklärung, Diskussion und Nach-Denken. Es ist also keine Schande, wenn jemand das Gefühl hat, den Begriff nicht richtig greifen zu können. Eigentlich ist das Konzept Queer auch genau so angelegt: nie zu Ende gedacht, sondern offen und durchaus uneindeutig.
Begriffsgeschichte
Früher waren „schwul“ und „lesbisch“ abwertende Bezeichnungen für homosexuell l(i)ebende Menschen, welche sich diese schließlich selbstbewusst rückangeeignet haben. Dieses „Reclaiming“ passiert mit vielen Bezeichnungen marginalisierter Gruppen; ein weiteres Beispiel dafür ist die Krüppelbewegung, in der Menschen mit Behinderungen den Begriff Krüppel (englisch „crip“) mit seinem gewaltvollen Potenzial entmachten und ihn für sich behaupten: als Selbstbezeichnung. Dies sind selbstermächtigende Strategien unterdrückter Menschen und Gruppen, um sich gegen den Stempel des „Andersseins“ und von außen zugeschriebene, vermeintliche Defizite zu wehren.
Im anglo-amerikanischen Sprachraum hatte sich queer nämlich als Schimpfwort etabliert, um Menschen, die in ihrer Sexualität vom Mainstream abweichen, zu bezeichnen. Durch schwule, lesbische, bisexuelle und trans Menschen selbst erfuhr der Begriff eine Neubewertung. In der Homosexuellenrechtebewegung wurde der Ausruf „We are here, we are queer, get used to it!“ in den 1990er-Jahren zu einer Art Kampfansage gegen Homophobie und Gewalt gegen LGBT. Damit verlor die einstige fiese Fremdzuschreibung „queer“ ihr herabwürdigendes Potenzial.
Lebenskonzept
Queer kann einerseits als Regenschirmbegriff verstanden werden, im Englischen: umbrella term, unter dem sich alles, was nicht straight, nicht geradlinig, nicht den gesellschaftlichen Normen entspricht, versammelt. Darunter fallen zum Beispiel Lesben, Schwule, bisexuelle, trans und intergeschlechtliche Menschen. Manche finden auch, dass polyamor L(i)ebende, also Menschen, die im Einverständnis aller Beteiligten mit mehr als einer Person in Liebesbeziehung(en) sind oder sein wollen, ebenfalls queer sind. Polyamore oder offene Beziehungen werden von anderen oft herabgestuft in ihrer Verbindlichkeit oder Ernsthaftigkeit; außerdem können nur Beziehungen zwischen zwei Personen zivilrechtlich verankert werden. Auch BDSM (2) zählen manche zum Queer-Konzept dazu. Rollenspiele, Dominanz und Unterwerfung, Lustschmerz oder Fesseln – solche „sadomasochistischen“ Neigungen werden von viele Menschen konsensuell ausgelebt, sind aber in unserer Gesellschaft nach wie vor nicht schick, sondern gelten als unseriös und werden von Betroffenen oft geheim gehalten – aus Angst, man könne sie als krank oder pervers einstufen.
Queer ist aber andererseits nicht mit LGBTI gleichzusetzen. Es ersetzt nicht die politischen Kämpfe einzelner Gruppen wie beispielsweise lesbischer Frauen und hat dies auch nicht als Anspruch. So schreibt die Queer-Forscherin Annamarie Jagose: „Die Lesben- und Schwulenbewegungen waren grundsätzlich der Idee von Identitätspolitik verpflichtet, denn Identität galt als notwendige Voraussetzung effektiven politischen Handelns. Queer dagegen nimmt einen eher vermittelten Bezug auf Identifikationsmuster.“ (3) Man könnte Queer daher auch als eine Methode bezeichnen, die immer wieder den Finger in die Wunde legt, sobald sich Kategorien festzuschreiben drohen.
Queer ist ein Lebenskonzept, das vor allem mit dem Durchbrechen von gesellschaftlich gesetzten Normen zu tun hat. Es ist eng verknüpft mit Diskursen rund um Sexualität, Begehren und Gender. Der Blick geht dabei immer auf Menschen, die an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden, die beschimpft oder ignoriert werden, weil sie nicht in die gängigen „westlichen“ Schemata passen. Damit verbunden gehört zu Queer auch die Infragestellung von Körpernormen: Dicke, behinderte, Schwarze, trans und intergeschlechtliche Körper etwa erleben im Queer-Konzept eine Art Rehabilitation ihrer Beschädigungen durch erlebte Diskriminierung und Gewalt. Schönheit, Gesundheit und Eindeutigkeit werden neu definiert bzw. durcheinander geschüttelt und auf den Kopf gestellt.
Queer ist dadurch immer ein alternatives Lebenskonzept, das mit bestimmten identitätspolitischen Forderungen einhergehen kann, aber selbst eigentlich das Konzept Identität ablehnt: Es gilt eher, Identitäten zu zerstreuen und dabei immer wieder neue Allianzen zu finden, ohne sich dabei auf eine ganz bestimmte Gruppe (z. B „wir Schwule“) festzulegen. Queer ist eine Haltung, eine Brille, eine Methode, eine Lebensweise. Queer als eine subversive Aktion stellt sich also gegen Geschlechter-, Begehrens- und Körpernormierungen, beispielsweise kann auch Fat Activism (Aktivismus dicker Menschen) als queeres Anliegen gesehen werden.
„Ich glaub, ich würd’ mich nicht als queer bezeichnen, weil ich es schwierig finde als Selbstdefinition, weil es für mich eher ein Werkzeug ist, Sachen anzuschaun, ein Handwerkszeug auf eine Art. Und weil ich es spannender finde, damit zu arbeiten als sich unter dem Begriff zu versammeln“, kommentiert Elisa Heinrich etwa in Persson Perry Baumgartingers aktivistischer Queer-Enzyklopädie „queeropedia“.
Theorie
Queer ist nicht nur ein Lebenskonzept – es hat längst in die Wissenschaft Einzug gehalten, in Form der Queer-Theorie, deren Name die feministische Wissenschaftlerin Teresa de Lauretis 1991 prägte, oder der Queer Studies, die Queer auf die verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen anwendbar machen. Eine der einflussreichsten Wegbereiter_innen der Queer Theory ist die Philosophin und Philologin Judith Butler, die insbesondere in ihrem 1990 erschienenen Buch „Das Unbehagen der Geschlechter“ (Original: „Gender Trouble“) Geschlecht und sexuelle Identität als performativ bzw. diskursiv hergestelltes Konstrukt beschreibt.
Ulrike Auga, Kulturwissenschaftlerin und Genderforscherin, betont das Potenzial von Queer in der Zerrüttung von Kategorien: „Queere Kritik ist kein identitätsbezogener Zugang. Sie ist eine Kritik an der Essenzialisierung von Geschlecht und Sexualität und an Heteronormativität, und sie beinhaltet eine konsequente Kritik daran, wer Zugang zu Wissen hat und wer nicht, was eine neue Perspektive auf die Diskurse rund um marginalisierte Menschen ermöglicht. Einer der wichtigsten Aspekte queerer Analysen ist ihr Potenzial der Dekonstruktion und Destabilisierung von Kategorien.“ (4)
Queer Studies sind eine sogenannte Querschnittsdisziplin. Das bedeutet, dass sie sich – genau wie die Gender Studies, mit denen sie eng verwandt sind – auf viele akademische Fächer anwenden lässt und dort jeweils Fragestellungen aufwirft, die innerhalb patriarchaler und heteronormativer Wissenszugänge sonst keine Beachtung finden. So gibt es beispielsweise das Queer Reading in den Literaturwissenschaften, das auch auf die Bibel angewandt werden kann. Dabei werden Figuren, Situationen, Sachverhalte und Ebenen von Texten mit queeren Fragestellungen konfrontiert.
Queere Theologie
Queer weicht und bricht ewig geglaubte Wahrheiten und starre Kategorien auf. Das ist besonders wichtig und hilfreich, wenn man theologisch arbeitet oder in religiösen Zusammenhängen lebt und wirkt. Schließlich haftet der christlichen Religion eine besonders hartnäckige Freude an Regelhaftigkeit, Verbot und Norm an.
Durch Queer können neue und kreative Formen von Moralität geschaffen und gelebt werden, so die englische Queer-Theologin Susannah Cornwall in ihrem Werk „Controversies in Queer Theology“. Die Queer-Theologie betont zum Beispiel die Uneindeutigkeiten, Umkehrungen und Fluiditäten der christlichen Religion als Stärke – etwa Gottes (Nicht-)Gender oder Gottes Menschwerdung sowie die Auflösung von vermeintlichen Gegensatzpaaren stark/schwach.
Wie eine Person Queer für sich entdeckt oder anwendet, ist sehr verschieden. Fakt ist, dass Queer ungemütlich ist, störend. Queer steht in Opposition zur Normativität und zum Konventionellen. Queer zeigt sich etwa auch in lesBischwulen Lebensweisen, in Transitionen oder wenn intergeschlechtliche oder behinderte Menschen geboren werden. Queer ist auch, wenn ich akzeptiere, wie jemand angesprochen werden will oder wenn ich es nicht pervers finde, wenn jemand BDSM mag. Aber Queer geht nicht in dem Einzelnen auf. Es erschöpft sich nicht in der Aufzählung der mittlerweile fast endlos zu knüpfenden Kette des LGBTI(QQAA)-Akronyms (5). Und schon gar nicht in Regenbogenparaden. Es will weitergedacht werden und weiter herausgefordert werden. Diskutiert, wieder verworfen, gefunden und wieder verloren werden. Es darf gefeiert werden. Queer scheut es dabei nicht, schlüpfrig zu sein und schrill – genau darin liegt sein Gehalt. Jedoch darf man nicht vor lauter Glitter vergessen, dass Queer immer etwas Politisches anhängt.
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(1) LGBTI steht für Lesbian, Gay, Bisexual, Trans, Inter.
(2) BDSM steht für: Bondage & Disziplin, Dominanz & Submission, Sadismus & Masochismus.
(3) Annamarie Jagose: Queer Theory. Eine Einführung, Querverlag 2001.
(4) Zitat übersetzt von Katharina Payk. Ulrike Auga: Resistance and the Radical Social Imaginary (...), in: Ulrike Auga u.a.: Resistance and Visions – Postcolonial, Post-secular and Queer Contributions to Theology and the Study of Religion (ESWTR Jahrbuch 2014), Peeters 2014.
(5) LGBTIQQAA steht zum Beispiel für Lesbian, Gay, Bisexual, Trans, Inter, Queer, Questioning, Asexual, Allies.