Der deutsche Auslöser des Trends #MeQueer ist der Twitterer Hartmut Schrewe. Er schreibt, dass er nur den Startschuss gegeben habe für eine Bewegung, die überfällig war. Denn Diskriminierung und Hass gegen queere Personen gebe es offen und subtil weltweit im großen wie im kleinen.
Als Reaktion darauf zucken die einen nur mit den Achseln. Es seien ja nur Posts unter einem Hashtag. Was könnten die schon bewirken? Andere betonen, dass sich viele nicht anders trauten. Sie könnten im Rahmen dieser Aktion endlich einmal ihre Erfahrungen aufschreiben und ihre eigene Sprache dafür finden. 280 Zeichen reichten zwar nicht für komplexe Zusammenhänge, aber sie seien ein Anfang.
So sehe ich das auch. Denn darum geht´s: Die eigenen Erfahrungen ernst nehmen, die eigene Sprache finden und diese öffentlich machen. Ich bin ohne eine solche Sprache aufgewachsen. Alles, was ich als Jugendliche gehört hatte, war: Gleichgeschlechtliche Liebe sei wahlweise pervers, unnormal, abartig oder sündig. Mir wurde als junge Erwachsene mehrfach prophezeit, dass Gottes Strafe über mich kommen werde und ich in die Hölle käme. Dabei war ich gläubige Christin, engagierte mich ehrenamtlich in sozialen und kirchlichen Zusammenhängen und verstand überhaupt nichts mehr.
Wie sollte ich mit solchen Fremdzuweisungen eine angemessene Sprache für meine Lebenserfahrungen finden? Mein Comingout und die Zeit danach waren mühsam. Vorbilder und eine hilfreiche Sprache für meine Gefühle gab es vor dreißig Jahren kaum. Ich weiß heute, dass es mir nicht alleine so ging. Damals fühlte ich mich aber allein. Diese Erfahrung zeigt: Sprache finden für die eigenen Gefühle, Sehnsüchte, Fragen und Hoffnungen ist etwas ganz Existenzielles.
Und noch etwas Anderes verdeutlichen die Beiträge unter den Hashtags: Resonanz von anderen Personen ist wichtig. Ich lebe nicht zeit- und kontextlos. Ich bin eingebunden in ein soziales Umfeld. Ich brauche Reaktionen. Im besten Fall Verständnis und Zustimmung und - wenn sie konstruktiv sind - auch ehrliches Feedback und Kritik. Reaktionen auf die Einträge unter den Hashtags ersetzen natürlich keine analoge Unterstützung. Sie ersetzen auch keine freundschaftliche Begleitung oder professionelle Beratung. Aber sie ermöglichen Reaktion und Resonanz. Tausende lesen die Einträge, liken, kommentieren, teilen, retweeten oder diskutieren sie. Natürlich gibt es auch aggressive und hasserfüllte Kommentare, Beleidigungen und Beschimpfungen. Genauso wie es Gleichgültigkeit und Unverständnis gibt. Das volle Programm. Dennoch. Oder gerade deswegen. Das Thema ist im Gespräch. Erfahrungen kommen zum Ausdruck. Die Beiträge wirken. Schmerzen, Wut, Anklage und Hoffnungen kommen zum Ausdruck. Die Beiträge bekommen Adressaten, die nicht selten selbst zu Autorinnen und Autoren werden. So wird aus einzelnen Stimmen ein Klangteppich, ein komplexer Widerhall von ganz unterschiedlichen Erlebnissen, Geschichten und Widerfahrnissen.
Die Autorin Ronya Othmann nennt soche Reaktionen in einem Beitrag bei Zeit Campus vom 31. August 2018 die „Kraft des Chores“. Der Chor von Leserinnen und Lesern hört zu, liest mit, nimmt Anteil, verstärkt, teilt und verbreitet Stimmen von Protest, Aufschrei, Wut und Klage. Missstände werden benannt, Hoffnung und Dank für Unterstützung geteilt. Einzelne Stimmen werden zu einem vielstimmigen Chor. Diese Kraft des Chores erinnert mich an die Funktion des Chores in antiken griechischen Tragödien. Sie hatten eine wichtige Funktion: Sie verstärkten Aussagen der Protagonisten. Sie kommentierten und kritisierten sie. Sie formulierten refrainartig Spitzensätze, die bestimmten Ereignissen einen Titel, ein Motto oder eine Zusammenfassung gaben. Die Stimmen sollten wiederholen, belehren und provozieren. So wurden Aussagen, Erkenntnisse und bestimmte Stimmungslagen gesichert und miteinander in einem Resonanzraum geteilt. Alles streng subjektiv, öffentlich und hörbar.
Genauso funktionieren auch Klagepsalmen, die im Buch der Psalmen im Alten Testament gesammelt worden sind. Da geht es nicht um weinerliches Murren und Nörgeln. Es geht ums Ganze: Krankheit, Schicksalsschläge, Heimatverlust, Tod, Niederlage, Zerstörung, Exil und Flucht. Solche Erfahrungen werden in den Psalmgebeten direkt an Gott adressiert. Entweder von Einzelnen oder von einem Gebetskollektiv, manchmal mit einem Vorbeter, der das Wort führt. König David hat solche Aufgaben nach biblischer Überlieferung in den so genannten Davidspsalmen stellvertretend übernommen. Neben Wut und Klage kommen zumeist auch Lob, Dank und Hoffnung zum Ausdruck, dass Gott die Gläubigen bisher beschützt und gehört habe und dies hoffentlich auch weiterhin tue. Andere können in die Sprache der Klage einstimmen. Sie müssen solche Worte in der Not nicht neu erfinden, sondern können sich darauf beziehen. Sie können die Worte wiederholen, verstärken, miteinander teilen, Gott anrufen und auf Veränderung hoffen. Das gemeinsame Gebet stärkt den Einzelnen, gibt dem Gebet mehr Gewicht und kollektiviert isolierte Erfahrungen.
Die Einträge unter den Hashtags #MeToo, #MeTwo und #MeQueer funktionieren ähnlich. Allerdings ist der Adressat nicht Gott, sondern alle, die sie lesen und hören wollen. Ziel ist es, dass die Beiträge wahrgenommen genommen, kommentiert und weiter geteilt werden. Die Einträge und die Resonanz darauf verändern Alltagsbeschreibungen und ihre Wahrnehmungen. Sie erweitern die Kenntnis über queere Lebenswirklichkeiten und verstärken die Reichweite der Worte wie bei einem Klagepsalm oder einem antiken Chor.
Klar. Mit den Hashtags werden die Probleme nicht gelöst. Aber mit ihnen wird eine Sprache formuliert, die niedrigschwellig und wirksam ist. Opfer werden zu Subjekten. Sie sprechen statt zu schweigen. Sie sind aktiv nicht passiv. Sie teilen sich mit statt sich zu isolieren. Und sie bekommen Rückmeldung, Anfeindung und Unterstützung, Hass und Solidarität, statt völlig ohne Resonanz in sich zu verkümmern und zu resignieren. Die Kraft des Chores wirkt. Sie beschreibt nicht nur die Wirklichkeit, sondern schafft und gestaltet sie auch. Insofern ist diese digitale Ausdrucksform als eine von vielen Sprachspielen bedeutsam. Gerade dann, wenn Sprache aufgrund von Tabus, Schweigen und Abwertung lange verloren war.
Und es gibt noch einen weiteren Mehrwert des Hashtags: Menschen sehen, dass sie nicht alleine sind. Es gibt Zehntausende, die ähnliche Erfahrungen machen. Sie erkennen: Es sind strukturelle Herausforderungen nicht persönliche Defizite. Auch wenn sie von jedem und jeder Einzelnen erlebt und bewältigt werden müssen.
Zum Schluss noch einmal Ronya Othmann:
„Wer sagt, #meQueer sei ja nur ein Hashtag, unterschätzt die Kraft des Chores. Bei #meQueer findet sich eine Sprache. Und Sprache finden war schon immer überlebenswichtig für queere Menschen. Sie müssen sich ihren Platz nicht nur in der Welt, sondern auch in der Sprache erst selbst schaffen und erkämpfen. (…) #meQueer ist zugleich Chor und Dokumentation dieses Chorstücks. Das Hashtag verschriftlicht all die Fälle, die aus den Polizeistatistiken fallen, weil nicht angezeigt wurde, ein abschätziger Blick nicht für eine Anzeige reicht und man diskriminierende Gesetzesregelungen nicht zur Anzeige bringen kann. #meQueer ist auch eine Anklageschrift an die Mehrheitsgesellschaft, die ja für all die strukturellen Diskriminierungen Verantwortung trägt. Eine Sprache finden, kann der Anfang eines politischen und gesellschaftlichen Wandels sein.“