Um es gleich vorweg zunehmen, kein Mensch ist aufgrund homosexueller Begabung besser, als jene die heterosexuell begabt sind. Genauso unbestreitbar ist allerdings auch, dass Personen, die homosexuell begehren in einer besonderen Situation leben. Nicht weil sie sich selbst als etwas Besonderes sehen möchten, sondern weil sie zu etwas Besonderem gemacht werden. Ob ich offiziell als Elternteil meines Kindes gelte, ob ich in kirchlicher Zeremonie Segen für meine Ehe erhalte oder ob ich in der Gemeinde mitarbeiten darf, all das entscheiden Staaten, Kirchen und christliche Gemeinschaften (unter anderem) anhand des sexuellen Begehrens. Die Heterosexualität wird dabei privilegiert, die Homosexualität diskriminiert. Durch diese Ungleichbehandlung wird der Homosexualität als Schöpfungsvariante von Liebe, Sexualität, Partner_innen- und Elternschaft die Erfahrung der Diskriminierung konstitutiv eingeschrieben. Wie unheilvoll diese Einschreibung ist, lässt sich an der jahrhundertelangen Diskriminierung von Menschen mit homosexuellem Begehren ablesen. Wer nicht-heterosexuell begehrt erleidet bis heute mannigfaltige Formen physischer, psychischer, struktureller und besonders auch symbolischer Gewalt. Jesus gebietet uns, gefährliche Ideologien anhand ihrer Früchte zu erkennen (Mt. 7,16). Der diskriminierende Umgang eines großen Teiles der Christ_innenheit mit der Gabe der Homosexualität hat keine gute Frucht, sondern eine böse, faule, giftige, ja tödliche Frucht hervorgebracht.
Aber Gott wäre nicht Gott, wenn er nicht auch aus dieser bösen Frucht noch etwas Gutes wachsen lassen würde. Denn aus der Erfahrung der Diskriminierung können segensvolle, gute Früchte reifen. Die wichtigsten dieser Früchte scheinen mir Empathie, Solidarität und Eifer zu sein.
Im Lied Vergiss es nie, das wir häufig anlässlich von Taufen singen, wird Gott für die Einzigartigkeit, mit der er jedes seiner Geschöpfe ausstattet, gepriesen. In der 2. Strophe heißt es: "niemand hat je, was du weißt, gewusst". Davor wird besungen, dass kein Mensch so "fühlt […] wie du". Das sind weise Worte, die darauf abheben, dass jede Person ganz eigene Wahrnehmungen und Empfindungen besitzt, die von Dritten niemals gleichermaßen erlebt werden können. Daran wie es anderen geht, kann ich mich immer nur anzunähern versuchen. Diese Annährung ist jedoch kein Luxus, sondern essentiell, wenn wir dem größten Gebot Christi Liebe deinen Nächsten, wie dich selbst (Mk. 12, 31) folgen wollen. Es ist mir nur dann möglich, meinem Gegenüber mit Liebe und liebenden Taten zu begegnen, wenn ich eine Ahnung davon habe, wie es sich fühlt. Das gilt auch und sogar besonders für Diskriminierungserfahrungen. Nur wenn ich selbst homosexuell liebe, weiß ich, wie es ist, wenn mich zum Beispiel taxierende, abschätzige und auch vernichtende Blicke treffen, während ich mit meine_r_m Partner_in Hand in Hand durch die Innenstadt gehe, während ich eigentlich nur, wie allen anderen, meinen Einkaufsbummel genießen möchte. Anderes und doch Ähnliches dürfte für einen Menschen mit dunklerer Hautfarbe gelten, der aufgrund seiner Pigmentierung ebenfalls feindselig angeschaut wird. Als Person mit hellerem Teint kann ich diese Form symbolischer Gewalt schwer nachempfinden, aber als Mensch, der homosexuell liebt, kenne ich die Verletzungen, die Blicke bewirken können nur zu gut und kann daher zumindest eine Ahnung davon bekommen, wie sich meine Geschwister mit dunklerer Hautfarbe fühlen könnten. Meine eigene Diskriminierung ermöglicht es mir, Empathie für die Opfer von Rassismus zu entwickeln, genauso wie für alle anderen Menschen, die wegen körperlicher Merkmale, ihrer ethnischen Herkunft oder Religion Ausgrenzung erleiden.
Wer jetzt einwendet, dass diese Empathie doch längst nicht auf alle Menschen zutrifft, die homosexuell begehren und auf der anderen Seite, Personen die heterosexuell begehren, nicht abgänglich ist, dem gebe ich uneingeschränkt Recht. Einerseits bietet die Möglichkeit, eigene Diskriminierung zu reflektieren und auf andere Ausschlüsse zu übertragen, lediglich die Chance zur Empathieentwicklung. Das ist kein Automatismus. Rassismus, Bodyismus oder Antisemitismus gehen auch von Menschen aus, die homosexuell begehren. Andererseits gibt es viele, die heterosexuell begehren, die auf andere Art Empathie entwickelt haben, durch Anteilnahme, durch Zuhören und Lernprozesse oder auch durch eigene Diskriminierungserfahrungen, nur eben in anderen Bereichen.
Darüber hinaus gibt es eine Reihe von Menschen, die die Annäherung daran, wie sich das Gegenüber infolge einer Diskriminierung fühlt, mit einem vermeintlichen absoluten Nachempfinden-können, was in der anderen Person vor sich geht, verwechseln – also genau das, was ich oben bereits als unmöglich ausgeschlossen habe. Auf der Grundlage dieses Irrtums entstehen dann häufig unangemessene, teilweise sogar recht übergriffige Empathiebekundungen und unnütze Hilfsangebote. Das ist dann keine wirkliche Empathie. Denn bei Empathie geht eben nur darum, sich klar zu machen, dass die andere Person diskriminiert wird, sich dem anzunähern und schließlich das Gegenüber zu fragen, wenn es Unterstützung möchte, welche es benötigt. Was mich zur zweiten Frucht bringt, der Solidarität.
Im Choral Das sollt ihr Jesu Jünger nie vergessen heißt es, dass wir als Nachfolger_innen Christi dann den letzten heiligen Willen unseres Herrn erfüllen, wenn wir "Gebeugte stärkten". Das beinhaltet auch, dass sich die Gebeugten gegenseitig stärken können. Ein besonders eindrückliches Beispiel hierfür ist, wie Menschen die homo- und bisexuell begehren sich im Großbritannien der 1980er Jahre mit den streikenden Bergarbeitern und deren Angehörigen soldarisierten. Beide Gruppen litten zwar auf ganz unterschiedliche Weise unter Repressionen, die eine sollte um ihre sozio-ökonomische Existenz beraubt, die andere für ihre Liebe diskriminiert werden. Die Quelle der Repressionen war aber die selbe, nämlich die reaktionäre Thatcher-Regierung sowie ein rechtsgerichteter Rollback in vielen Kreisen der Bevölkerung. Eine Gruppe queerer Aktivist_innen hatte das begriffen und Geld für die Streikkasse der Bergleute gesammelt. Deren Gewerkschaftsangehörige soldarisierten sich daraufhin ihrerseits, nach anfänglichem Zögern und Befremden, mit dem Anliegen der Emanzipation nicht-heterosexuellen Begehrens. So nahmen Bergarbeiter und deren Angehörige beim London Pride (dem Londoner Christopher-Street-Day) 1985 mit einer großen Fußtruppe teil (wer mehr darüber erfahren möchte, dem sei der Film Pride wärmstens empfohlen). Ich bin überzeugt, dass wir in einer besseren, gottgefälligeren Welt leben würden, wenn solche Beispiele zur Regel würden. Doch leider hört die Solidarität nur allzu oft dort auf, wo auch die eigenen Interessen aufzuhören oder gefährdet zu sein scheinen. So erlebe ich beispielweise seitens Menschen mit gleichgeschlechtlichem Begehren immer wieder eine mangelnde Solidarität mit Personen, die transgeschlechtlich begabt sind. Oft wird dabei argumentiert, dass die Akzeptanz des eigenen Anliegens beeinträchtigt werden könnte, wenn mensch sich mit den Zielen der Anderen gemein macht. Diese Haltung ist das Gegenteil von Solidarität. Sicherlich genießt das Anliegen homosexueller Emanzipation mittlerweile eine höhere Akzeptanz als das transgeschlechtlicher. Aber daraus die Konsequenz zu ziehen, nun das Eigene nicht mehr im Kampf für andere gefährden zu wollen, ist geschichtsvergessen, egoistisch, undankbar und unchristlich. Wer so denkt, sollte sich fragen, wie es heute um das Projekt der Gleichstellung homosexueller Liebe stünde, wenn nicht in früheren Zeiten beispielsweise Frauen aus deren Bewegungskontexten heraus, auch die Anliegen gleichgeschlechtlich begehrender Männer unterstützt hätten oder was wäre, wenn wichtige Gewerkschafter_innen der Bergarbeitenden sich nicht bereits in den 1980er Jahren für die Verankerung der Gleichberechtigung von homosexuell Begehrenden im Programm der Labour-Partei eingesetzt hätten. Homosexuelle Emanzipation steht eben nicht allein auf dem Fundament eigener Leistungen und selbst ausgetragener Kämpfe, sondern genauso auf dem Fundament der Solidarität, die andere diskriminierte Gruppen gezeigt haben. Und daraus erwächst eine Verpflichtung, die heute gestärkte Position zu nutzen, um denen, die gebeugter sind als wir, selbst Unterstützung anzubieten. Danach sollten wir fröhlich eifern.
Sonne der Gerechtigkeit, gehe auf zu unser Zeit heißt es im Evangelischen Gesangbuch. In dem Text kommt eine tiefe Sehnsucht zum Ausdruck danach, dass ein Teil der vollkommenen Gerechtigkeit, die uns Menschen in Gottes ewigem Reich erwartet, schon jetzt in unserer Welt aufscheinen möge. Die 6. Strophe lautet: "Lass uns Deine Herrlichkeit sehen auch in dieser Zeit und mit unser kleinen Kraft üben gute Ritterschaft. Erbarm Dich Herr". Die Erfahrung der Diskriminierung kann Menschen dazu antreiben, sich konsequent mit all ihrer Kraft gegen selbige zu stellen. In ihnen entbrennt ein regelrechter Eifer danach, eine gerechtere Welt zu schaffen. Sie werden Ritter_innen im Kampf für Gottes Gerechtigkeit. Dieser Eifer ist eine weitere gute Frucht, die aus Diskriminierung erwachsen kann. Ich bin immer wieder erstaunt, wie viele die kleine Kraft dieser Ritter_innen zu bewirken vermag. Dabei blicke ich einerseits auf herausragende Personen wie Harvey Milk, Rosa Parks oder Uta Ranke-Heinemann, um nur einige ganz wenige Beispiele zu nennen. Andererseits sehe ich, was die vielen christlichen LGBTTIQ*-Gruppen, Organisationen und Verbände weltweit, aber auch hier bei uns in Deutschland mit ihren vielen eifrigen Ritter_innen immer wieder leisten. Wie sie sichere Räume schaffen, in denen Menschen ihren Glauben angstfrei leben können, wie sie Verfolgte unterstützen, den konstruktiven Dialog mit Verantwortlichen suchen und dadurch schon so viele Verbesserungen für Menschen, die dem Ideal der heteronormativen Ideologie nicht entsprechen, erwirkt haben, wie etwa die Öffnung der kirchlichen Trauungen in vielen Landeskirchen.
All das Gute, das Gott aus der bösen Frucht der Diskriminierung erwachsen lässt, erinnert mich stets aufs Neue an den Satz, den Josef zu seinen Brüdern, die ihn als Kind in die Sklaverei verkauft haben, gesagt hat: "Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut mit mir zu machen" (1. Mos. 50,20). Ein ganz wunderbarer Ausspruch, der von großem Gottvertrauen zeugt und der uns Mut machen kann. Egal wie sehr, wie oft, von wem Du diskriminiert wirst, Gott vermag diese Erfahrung zu wenden. Er wird es gut machen und es Dir zu Deinem Heil gereichen lassen.
Herr, stärke unser Vertrauen auf diese Wahrheit. Amen.