Es gibt eine neue Homophobie. Das Neue an ihr ist, "dass es sich um eine Homosexuellenfeindlichkeit handelt, die auf ihrer Homosexuellenfreundlichkeit beharrt". So lautet die Kernthese des vor wenigen Wochen erschienenen Buches Ich habe ja nichts gegen Schwule, aber … Die schrecklich nette Homophobie in der Mitte der Gesellschaft von Johannes Kram. Der Autor schreibt seit vielen Jahren das Nollendorfblog, eines der prominentesten Blogs, die sich mit der Diskriminierung und Emanzipation von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transgender, Transsexuellen, Intersexuellen und Queers (LGBTTIQ*) befassen. In seiner jüngsten Publikation belegt er seine These von der neuen Homophobie an einer Vielzahl von Beispielen, die sich aus Zeitungskommentaren, Interviewausschnitten und den Aussagen öffentlicher Personen, wie etwa Politiker_innen zusammensetzen. Kram versteht es dabei, das Material einer tiefgehenden Analyse zu unterziehen, die ein umfassendes Bild der aktuellen Situation nicht nur - wie der Titel suggeriert - schwuler Männer, sondern in weiten Teilen auch lesbischer Frauen und bisexueller Menschen in der Bundesrepublik Deutschland, sowie vieler weiterer Personen, die dem heteronormativen Idealbild nicht entsprechen, zeichnet.
Homosexuelle sind in den aktuellen Diskursen um ihre gesellschaftliche Stellung nicht mehr diejenigen, die sich aufgrund der Amoralität ihres (sexuellen) Verhaltens als gleichwertige Subjekte disqualifizieren, wie es antihomosexuelle Diskurse lange Zeit behaupteten. Stattdessen beruht die neue Homophobie darauf, dass den "Homosexuellen zwar zugebilligt wird, homosexuell sein zu dürfen, aber vor einem zu viel an Homosexualität gewarnt wird". So beschreibt Kram den Paradigmenwechsel, der den argumentativen Kern seines essayistischen Werkes bildet. Wie der Untertitel des Buches bereits deutlich macht, geht diese neue Homophobie nicht allein, ja sogar nicht zentral von den rechten, konservativen oder radikalen Rändern unserer Gesellschaft aus, sondern entspringt ihrer Mitte. Seinen besonderen Fokus legt der Verfasser auf das linksliberale Milieu, zu dessen Selbstverständnis so ausdrücklich die Akzeptanz Homosexueller gehört. Ein besonders frappierendes Beispiel zeigt Kram am Fall der Opernkritikerin Eleonore Büning auf. Diese stimmt in einem 2016 erschienenen Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung zunächst ein wahres Loblied auf die vermeintliche Opernaffinität vieler schwuler Männer an – was bereits ein Beleg für positive Diskriminierung darstellt, durch die ja ebenfalls Stereotypen konstruiert werden. Zum Exempel für die neue Homophobie wird der Text allerdings erst dadurch, dass Büning sich im letzten Absatz bemüßigt fühlt, "homosexuelle Vetterleswirtschaften" am Opernhauses Sydney zu beklagen, weil dieses die Sopranistin Tamar Iveri nicht wie geplant in einer ihrer Produktionen einsetzt. Hintergrund der Entscheidung war ein Posting auf dem offiziellen Facebook-Profil der Sängerin, in dem der CSD in Tiflis mit den Worten kommentiert wurde: "Ich war stolz darauf, wie die georgische Gesellschaft auf die Parade gespuckt hat ... Bitte stoppt die Versuche, mit Propagandamitteln westliche 'Fäkalmassen' in die Mentalität der Menschen zu bringen". Indem Büning diesen Post als "angeblich homophobe[.] Bemerkung" bezeichnet, stellt sie dessen Homosexuellenfeindlichkeit infrage. Auf Grundlage dieser konstatierten Fraglichkeit behauptet die Opernkritikerin, dass die Homosexuellen im Leitungsteam der Oper Sydney der Solistin, die die Partie, obwohl vorher anders vereinbart, letztlich nicht sang, ganz übel mitgespielt hätten. Wie Kram überzeugend darstellt, kommt es hier zu einer Täter_innen-Opfer-Umkehr. Nicht die Sängerin mit ihren antihomosexuellen Äußerungen ist die Täterin von Hassrede, sondern das homosexuelle Leitungsteam der Oper Sydney macht der Sopranistin ohne legitimen Grund ihr Engagement streitig. In dieser Argumentation kommt eine Figur zum Ausdruck, die der Autor im Weiteren immer wieder in den unterschiedlichsten Variationen belegt. Den Homosexuellen wird erklärt, sie seien willkommen, mensch hätte nichts gegen sie und ihre Emanzipation, aber nun sei diesbezüglich wirklich alles erreicht und sie sollten es jetzt aber auch bitte gut sein lassen und nicht jede gegen sie gerichtete Bemerkung als gegen sie gerichtet verstehen und schon gar nicht skandalisieren. Völlig zu Recht stellt Kram die Anfrage an Bünings Äußerung: "Wenn dieser Satz über einen Gaypride […] nicht, oder – wie Frau Büning behauptet – nur 'angeblich' homophob ist, kann man dann überhaupt über Homophobie reden?" Die Antwort, die der Verfasser findet ist, dass die neue Homophobie ihre Benennung als solche zum Skandal erhebt und damit jede Auseinandersetzung über Homophobie zu verunmöglichen versucht. Das Credo lautet dabei: Wer sich als homosexuellenfreundlich gibt – wie es etwa Büning mit ihrem einleitenden Lob schwuler Opernbesucher zu suggerieren versucht – der kann auch nicht homophob sein, dessen Äußerungen können nicht homophob sein, egal was diese beinhalten.
Kram geht auf den häufig an ihn gerichteten Vorwurf ein, wenn er liberale Kräfte, wie Frau Büning und andere kritisiere, dann nehme er die Falschen in den Fokus und überhaupt sei es wenig sinnvoll, sich an kleinen Zitaten abzuarbeiten. Dem setzt der Autor entgegen, dass es gerade diese knappen Äußerungen sind, die so harmlos, oft als Humor gekennzeichnet, daher kommen, die Homophobie im öffentlichen Diskurs unmerklich manifestieren. Deshalb müsse sie genau an den Stellen, wo die Homophobie nicht offensichtlich ist, wo sie nicht von den üblich Verdächtigen geäußert wird, markiert werden. Dabei ist es dem Verfasser wichtig, deutlich zu machen, dass es nicht sein Ansinnen ist, Menschen zu diskreditieren, sondern deren Aussagen. So wendet er sich etwa gegen Pointen, die viele deutsche Komiker dadurch erzeugen, dass sie das Stereotyp des "dummen Homo" als Motiv für ihre Witze gebrauchen. Dieter Nuhr und Jürgen von der Lippe beispielsweise schreiben die Lächerlichmachung schwuler Sexualität dadurch fort, dass sie billigste Zoten über Analverkehr reißen und Bilder von schwulen Männern als triebhafte Sexmonster zeichnen. Überzeugend argumentiert der Verfasser, dass es einen großen Unterschied macht, ob über eine Person, etwa als Gegenstand eines Gags gelacht wird, weil sie schwul ist, also ihre sexuelle Identität per se lachhaft gemacht wird, oder über eine homosexuelle Person gelacht wird, weil diese etwas Komisches tut. Wie sich die genannten Künstler bereits im Vorfeld der Veröffentlichung des Buches gegen die Bewertung ihrer Witze als homophob gewehrt haben, ist eine Bestätigung der Thesen Krams. So erklärte Nuhr laut queer.de, es handle sich um absurde Vorwürfe und verwies dabei unter anderem darauf, dass er sich für die Ehe für alle eingesetzt habe und ihm dafür viele schwule Freunde gedankt hätten. In dieser Aussage kommt trefflich zum Ausdruck, was Kram meint, wenn er das folgende Totschlagargument herausarbeitet: "Das Gesagte kann ja gar nicht homophob sein, weil sie oder er selbst ja gar nicht homophob sei".
Wie wichtig es ist, sich Homophobie in jeglicher Form entgegenzustellen, erklärt der Autor insbesondere im letzten Kapitel seines Buches, in dem er darauf hinweist, dass das Leben aller LGBTTIQ* von Homophobie beeinflusst wird. Dabei verweist er darauf, dass zwei Drittel der Nicht-Heterosexuellen in der Arbeitswelt ihre Identität nicht öffentlich machen können. Das bedeutet beispielsweise, Ehepartner_innen zu verleugnen oder eine Karriere als Fußballprofi erst gar nicht anzustreben. Kram zeigt auf diese Weise, dass es sich bei Homophobie um eine wirkmächtige Kraft handelt, die es vermag, Leben nicht nur in ungewollter Weise zu lenken, sondern auch zu zerstören, wie sich in trauriger letzter Konsequenz an der weiterhin ungleich höheren Suizidrate nicht dem heteronormativen Ideal entsprechender Jugendlicher beweisen lässt. Der Verfasser endet daher mit einem Plädoyer, den Kampf gegen Homophobie zu führen, sie entgegen aller anders lautenden Bestrebungen dort zu benennen, wo sie auftritt und dabei auch keine Scheu zu haben, die Sprecher_innen für ihre Äußerungen zu kritisieren.
Lesen sollte die 190 Seiten, wer bereit ist, sich ernsthaft mit Homophobie auseinanderzusetzen. Und zwar nicht nur mit der der Anderen, sondern auch mit der eigenen. Bereits am Beginn seines Werkes konstatiert Kram, dass wir alle in einer homophoben Welt sozialisiert wurden und sich das in unserer aller Denken und Handeln niederschlägt, was ihn zu der provokanten und für einige sicherlich herausforderenden Annahme bringt: "Ich bin homophob [… und] Sie sind es sehr wahrscheinlich auch".
Der Autor hat mit Ich habe ja nichts gegen Schwule, aber … Die schrecklich nette Homophobie in der Mitte der Gesellschaft ein wichtiges Buch geschrieben, das in einer Reihe sehr guter aktueller Gegenwartsanalysen zur gesellschaftlichen Situation Homosexueller, wie sie von Carolin Emcke oder auch Didier Eribon vorgelegt wurden, steht. Auch für Sozialwissenschaftler_innen bietet dieses Werk einen reichen Fundus empirischen Materials. Prädikat: Absolut lesenswert.