Genau zwei Jahre ist es nun schon her, dass Dion quasi aus meinem Leben verschwunden ist. Unsere Freundschaft war besonders, denn wir konnten über so vieles so gut sprechen: über Sexualität, unsere Beziehungen, unsere Körper Issues, und eben auch – und diese Mischung ist in meinem Leben sehr selten – über Gott und unseren Glauben. Dion ist trans – ein schwuler (trans) Mann. Als ich ihn kennenlernte, war er schon mitten in dem, was man Transitionsprozess nennt.
Mit Dion habe ich gelernt, oder endlich getan, was ich immer schon wollte: Mit einem guten Freund kuscheln und so vertraut sein wie mit einer Liebesbeziehung. Ich bin gerne bei ihm eingeschlafen, denn er wohnte etwas außerhalb von Wien – da fuhr spät nachts nichts mehr zurück. Meistens sind wir in seinem Kaff auch in die Kirche gegangen. Ich bin evangelisch, er ist „gar nichts“ – egal, die römisch-katholische Kirche dort war sehr schön. Einen Marienfetisch haben wir beide, also haben wir immer ein Kerzerl bei der Madonna angezündet und dann gemeinsam gebetet.
Dion war irgendwie immer besorgt, vor allem um seine Familie: „Wie soll ich es ihnen sagen? Ich will sie nicht verletzen. Aber ich kann nicht mehr anders leben als nur so“, hatte er einmal nach dem Gottesdienst gesagt, wo der Pfarrer über das Einssein mit sich selbst und mit Gott gepredigt hatte. Dions Familie lebt in Serbien, in einem Dorf unweit von Novi Sad. Dion war eigentlich immer gerne dorthin gefahren, um sie zu besuchen. „Diese Vertrautheit ist unersetzbar, die findest du in Wien nie, auch wenn du dreißig Jahre hier wohnst, nein: oder schon immer!“
Dions Heimat war und blieb Serbien, doch seine Reisen dorthin wurden weniger, hörten irgendwann auf. Die Familie kam nicht damit klar, dass er nun einen neuen Namen trug und dass er als Mann lebte. Ich sagte oft, er solle seiner Familie Zeit geben, sich an alles zu gewöhnen. Aber nach einem gewalttätigen Übergriff durch seinen Cousin war sogar ich nicht mehr erfreut, wenn er dorthin fuhr. „Es ist gegen die Natur“, hatte seine Mutter gesagt. Und doch: Sie war laut seinen Erzählungen diejenige, die am meisten gekämpft hat. In ihrem Dorf hat sie mit vielen über die Transidentität ihres Kindes gesprochen. Sie hat nie versucht es zu verheimlichen, immer versucht, irgendwie damit umzugehen. Aber akzeptieren konnte sie ihren Sohn so, wie er war doch nicht. „Gott hat dich nicht so geschaffen!“ Dieser Ausspruch war derjenige, der Dion wohl am meisten getroffen hat. Meine Antwort war spontan: „Wie? Wie geschaffen? Du bist jetzt derjenige, der du bist – so hat Gott dich doch geschaffen!“ Ich habe ihm von den Frauenliturgien, in denen der Körper als Teil der Liturgie gefeiert wird, erzählt. „Alles in und an diesem Körper ist fähig, Tempel des Göttlichen zu sein“, schreibt etwa Brigitte Enzner-Probst in „So ist mein Leib“, ein Sammelband über „Alter, Krankheit und Behinderung – feministisch-theologische Anstöße“ (hg. v. Ilse Falk u. a., 2012).
Viele Menschen beschäftigen solche Themen: trans und inter Menschen, Menschen mit Be_hinderungen und besonderen psychischen Verfassungen. Viele kämpfen ihr Leben lang oder einen Teil ihres Lebens mit dem Gefühl, nicht „eins“ zu sein mit ihrem Körper oder ihrer Psyche. Es ist dann besonders schwierig, etwas an sich als von Gott geschaffen anzunehmen, wenn man darunter schwer zu leiden hat. „Wie wäre es, wenn ich wer anders wäre oder als wer anders geboren wäre“, fragen sich Menschen etwa in solchen Situationen und Verfasstheiten. Der Schöpfungsgedanke kann dann pervertiert werden, indem es zu einer grausamen Spriritualisierung von Leid kommt. Bei einer Aussage wie „Gott will, dass du so bist“, werden die gesellschaftlichen und politischen Missstände ausgeblendet, unter denen diese Menschen eigentlich leiden. Denn weder Transsein noch Be_hinderung etwa sind individuelle Schicksale, sondern werden immer und vor allem im gesellschaftlichen Kontext zu einem Problem. Das ständige sich und seinen Körper oder seine Verfasstheit an die Maßstäbe einer neoliberalen und an cis-binären Schönheitsidealen orientierten Gesellschaft anzupassen, in der man genauso funktionieren muss wie ein nicht traumatisierter, nicht-behinderter cis Mensch z. B., der Versuch, möglichst „normal“ zu sein, nicht aufzufallen, nicht anzuecken und die tägliche Exponiertheit auszuhalten, ist ein Kraftakt, der eine_n erst krank oder be_hindert oder zu dem nicht lesbaren Geschlecht macht. Und nicht zuletzt ist der Faktor Schuld ein nicht zu unterschätzender: Viele trans Menschen oder Menschen mit Be_hinderungen ringen zumindest eine gewisse Zeit in ihrem Leben mit Schuldgefühlen, zum Beispiel der Familie gegenüber, aber auch Menschen im alltäglichen Leben gegenüber. Weil man nicht so viel leisten kann wie andere (zumindest wenn Leistung neoliberal gezählt wird), weil man schneller erschöpft ist, da man täglich mit der eigenen Identität kämpft – immer und nebenher. Weil man Angst hat, für irgendwen eine Belastung sein zu können. Weil man Angst hat, „entdeckt“ zu werden, in seiner Schwäche, seinem Anderssein, seiner Verletzlichkeit, seinen Ängsten.
Auch Dion hatte diese Schuldgefühle. Er wollte nicht, dass seine Familie darunter leidet, dass er trans und schwul ist. Er wollte sich aber gleichwohl auch den Raum und die Freiheit nehmen, die jedem Menschen zusteht: zu sich selbst zu stehen und sich selbst zu lieben und zu leben.
Dion ist deswegen ausgewandert. „Ciao, Sweetie“, hat er zu mir gesagt, als er nach Indien ausgewandert ist. Er wollte alles hinter sich lassen und ein alternatives Leben, fernab von westlichen Werten wie Leistung und normierter Schönheit, beginnen. Aussteigen.
Das kann heilsam sein, wenn man keine Kraft mehr hat zum Kämpfen. Ich hingegen fordere, dass sich die Strukturen in unseren Gehirnen und politischen Systemen, in unseren engen Denkmustern und ignoranten Haltungen verändern. Jeder Mensch, auch und vor allem cis Menschen, psychisch und körperlich stabile, nicht-be_hinderte Menschen sind dazu angehalten, mit offenen Augen ihr Umfeld – weiter und enger – zu betrachten und sich immer zu fragen: Was wäre, wenn ich ... wäre.
Wenn es mehr offenere, akzeptierende und barrierefreie Räume und Strukturen gäbe, mehr Bereitschaft, empathisch zu sein mit Menschen, die unter anderen Bedingungen und in anderen Verfasstheiten ihr Leben bestreiten, würden sich viele Menschen die Frage nach ihrer angeblichen Nicht-Normalität nicht mehr oder viel weniger stellen. Und Gott wäre vielleicht auch nicht mehr so eine_r, mit dem_der man ständig streiten muss.
„Wenn du willst, schreib doch mal was über mich“, sagte Dion beim Abschied. Was ich hiermit tue.