"Der Januar ist kalt, lang, dunkel und – wegen der fälligen Versicherungsbeiträge – teuer", sagt eine Bekannte. Mich befällt in diesem Monat immer wieder Melancholie. Sehnsuchtsvoll blicke ich zurück. Vor wenigen Tagen noch, da war Dezember, die Advents- und Weihnachtszeit mit ihrer Festlichkeit, ihrem Glanz, ihren abendlichen Beisammensein, ihrer ganz eigenen Frömmigkeit. Und jetzt? Ich sitze an meinem Schreibtisch. Die Bäume kahl, der Himmel grau, es dämmert. Wo ist das geblieben, was es mir eben noch so warm ums Herz hat werden lassen? Es braucht einen Moment, dann wird mir klar, das was es warm ums Herz lassen wird, nein, nicht das, sondern der, der es warm uns Herz werden lässt, der ist immer noch hier! Jesus Christus, mein Heiland, dessen Menschwerdung wir an Weihnachten gefeiert haben.
"Jesus ist kommen, Grund ewiger Freude", das Epiphanias-Lied von Johann Ludwig Konrad Allendorf bringt es wunderbar auf den Punkt. Jesus ist gekommen. Gekommen zu mir. Die Freude darüber soll ewiglich währen, im Dezember ganz genauso wie im Januar oder im August. In starken Worten zeigt der Choral auf, was diese Freude auch an den trüben Tagen unseres Lebens immer wieder von neuem nähren kann. So heißt es in der dritten Strophe: "Jesus ist kommen, der starke Erlöser, bricht dem gewappneten Starken ins Haus, sprenget des Feindes befestigte Schlösser, führt die Gefangenen siegend heraus". So ein befestigtes Schloss, das waren beispielsweise lange Zeit die evangelischen Landeskirchen in Deutschland. Für Frauen, für Lesben, für Schwule. Sicherlich, nicht alle kirchlichen Bereiche waren unerreichbare Festungen, doch ganz wesentliche eben schon. Frauen als Pfarrerin? In regulären Gemeindepfarrämtern? Vielleicht sogar als Bischöfinnen? Das war viele Jahrhunderte undenkbar. Ähnliches galt für homosexuell Liebende. Die patriarchale Ideologie ist lange unhintergehbar in die Grundfeste kirchlicher Gesetzgebung und unausgesprochener Organisationsprinzipien eingelassen gewesen. Heute brechen diese Mauern, die so viel Leid über berufene Diener_innen Gottes gebracht haben, immer mehr in sich zusammen. Frauen sind aus dem Pfarrberuf nicht mehr wegzudenken, Lesben und Schwule ebenfalls. Jesus hat die befestigten Schlösser gesprengt. Und hat die, die in der Geiselhaft patriarchaler Ideologie gefangen waren, siegreich herausgeführt. Ich kann gar nicht anders, als mich darüber nur immer wieder zu freuen.
Untrübbar ist meine Freude trotzdem nicht. Es gab und gibt immer noch so viele befestigte Schlösser, von denen ich wünschte, Jesus sprengte sie. Was ist mit den Homo-, Bi-, Transsexuellen und Transgendern, die in Russland wie Freiwild gejagt werden? Was ist mit den jungen Lesben und Schwulen, an denen obskure Scharlatane, angetrieben von christlich-fundamentalistischem Wahn, das Heilen wollen, was Gott diesen jungen Menschen doch als kostbares Geschenk gegeben hat, ihr homosexuelles Liebensempfinden? Was ist mit den Gotteskindern, die dem heteronormativen Ideal nicht entsprachen und die deshalb in den Gaskammern der Nazis feige ermordet wurden? Ich muss erkennen. Ja, der Erlöser war auf Erden, in Menschengestalt, aber er hat seine Erlösung jetzt noch nicht vollendet. Jesus lässt seine Erlösung immer wieder aufleuchten, auch in unserer Zeit. Doch nicht vollumfänglich. Und wir können nicht erklären, warum er es heute bereits an dem einen Ort, an der einen Person tut und woanders nicht. Es gehört zu den Wahrheiten unseres Glaubens, dass wir bis zur Wiederkunft Christi noch sehr viel Leid sehen und ertragen werden müssen. Wir leiden mit, wir leiden selbst, aber wir sind – und das gehört eben auch unumstößlich zur Wahrheit unseres Glaubens – im Leid nicht hoffnungslos, denn wir haben die Herrlichkeit und die Freuden, die uns erwarten, ja schon sehen dürfen, in den Wundern, die uns die Bibel bezeugt und denen, die wir selbst bereits erlebten. Wir glauben an den, der "Fluch, Jammer und Tod" nicht nur für sich selbst, sondern für uns alle überwunden und der unseren Platz in seiner Herrlichkeit längst reserviert hat. Und darum können wir auch angesichts unendlichen Leids, selbst dann wenn die Augen vor Tränen überquellen, dem Fürst dieser Welt und seinen Werken trotzend mit den Worten unseres Chorales entgegnen: "Fühlst du den Stärkeren, Satan, du Böser? Jesus ist kommen, der starke Erlöser"!
Was heißt das alles für unser Leben? Ist unsere Existenz im Diesseits nur ein reines Ausharren? Ein Warten auf das Kommende, dessen Sinn wir nicht erfassen? Nein. Unser Leben hat einen Sinn: Christus! So lässt es uns die achte Strophe des Chorales wissen: "Jesus ist kommen, die Ursach´ zum Leben". Gott selbst, der uns das Leben eingehaucht hat, schenkt uns in seinem Sohn Erlösung und Sinnstiftung zugleich. Durch Christus können wir hier auf Erden bereits echte Seligkeit empfangen, wenn wir uns ihm "beständig ergeben". Wie kann so ein beständiges Ergeben aussehen? Im seinem Abschlussvers fordert uns der Liedtexter auf: "Schwöret die Treue mit Herzen und Händen". Gemeint ist damit einerseits, dass wir unser Herz, also unser Innerstes treu an Christus hängen. Das macht große Freude und kann uns immer dann gelingen, wenn wir seine Nähe suchen. Im Gottesdienst, im Hauskreis, im Gebet. Auch im Lobpreis, dieser besonderen Gebetsform, für die auch der hier ausgelegte Choral als Instrument dienen kann. Anderseits sollen auch unsere Hände Christus die Treue schwören. Ich denke damit ist mehr gemeint, als die Hände in der Anbetung zu Christus zu erheben. Wir sollen dem Sohn Gottes in unserem Tun und Lassen nacheifern. Werke und Taten, die von der Nachfolge Christi motiviert sind, helfen, das Reich Gottes schon hier auf Erden aufleuchten zu lassen. Außerdem gewähren sie denen, die sie tun, wahre Seligkeit, vielleicht die höchste Form der menschlichen Glückes.
In den letzten Jahren haben viele Menschen unermüdlich dafür gekämpft, dass Lesben und Schwule heiraten dürfen. Der Antrieb, besonders für jene, die durchsetzen konnten, dass gleichgeschlechtlich liebende Paare in den evangelischen Landeskirchen gesegnet werden, war immer wieder der feste Glaube, damit Christi Willen zu erfüllen. Denn zu seinem Reich passen keine Kirchentüren, die für lesbische und schwule Liebende geschlossen bleiben. Wenn ich mich an die Gesichter derer erinnere, die sich über die Beschlüsse der Synoden, die eine Segnung ermöglicht haben, freuten, dann kann ich wahre Seligkeit sehen.
Ganz am Schluss des Liedes steht die Aufforderung: "Jesus ist kommen, sagt´s aller Welt Enden", eine Aufforderung zur Mission. Die Kunde von Christus weiterzugeben, auch dies kann einem echte Freude schenken. Hier kommt Transgendern, Transsexuellen, Transidenten, Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Nicht-Binären und Gender-Queeren, die in der Nachfolge Christi stehen, eine besondere Aufgabe zu. Viel zu oft wird die gute Botschaft vom Heil Christi unter einem frömmelnden Fundamentalismus begraben, der nicht Jesus alle Ehre gibt, sondern dem Ideal der heteronormativen (nicht der heterosexuellen!) Kleinfamilie. Auch ein Opportunismus, der sich dem nicht entschieden entgegenstellt, ist übrigens kein guter Dienst am Reich Jesu Christi. Denn das hält Menschen vom Glauben an Jesus Christus fern. Deshalb braucht es einen deutlichen Kontrapunkt. Transgender, Transsexuelle, Transidente, Lesben, Schwule, Bisexuelle, Nicht-Binäre und Gender-Queere können für diejenigen, die Jesus noch nicht oder wenig kennen oder denen die sich angstvoll, schamvoll und verzweifelt von ihm abgewandt haben, beziehungsweise gar nicht erst an ihn herantrauen, ein lebendiges Zeugnis geben. Ein Zeugnis, dass Gott ein Schöpfer ist, der seine Kinder in unendlicher Vielfalt geschaffen hat und sie auch genau so liebt. Was für ein wichtiger, notwendiger Dienst am Leib Christi! Von diesen Geschwistern kann die Botschaft ausgehen: Gott meint Dich wie Du bist! Er liebt Dich! Er freut sich über Deine Liebe, über Dein Geschlecht und Deine Sexualität. Du bist errettet, Du bist erlöst und darum - um mit den Worten des Liedes zu sprechen – eile "zum Gnadenpanier!" Was für eine größere Freude sollte es geben?
Ich wünsche den Leser_innen dieses Blogs, dass auch Sie, wenn Sie einmal die Freudlosigkeit ergreift, das Gesangbuch aufschlagen und dann angesteckt werden von der guten Nachricht: Jesus ist kommen, Grund ewiger Freude!