Tim ist 17, Gymnasiast und schwul. Wie alle anderen möchte er sein Zimmer auf der Klassenfahrt mit den Menschen teilen, mit denen er befreundet ist. Doch, das wird ihm nicht gestattet, denn Tim ist nicht mit den anderen Jungs, sondern mit Mädchen befreundet. Obwohl die Eltern der Mädchen und auch Tims Eltern erklärtermaßen nichts dagegen haben, wird keine Erlaubnis erteilt. Für Tim ist das Zwang. Diskriminierung. Er fühlt sich in seinen Persönlichkeitsrechten eingeschränkt. Seine Lehrerin riet ihm, keinen großen Aufstand zu machen. Der Direktor lehnte sein Ansinnen als unbegründet ab. Auch das Bildungsministerium wies ihn zurück. Doch Tim gibt nicht auf. Er startet eine Online-Petition und erhält Unterstützung, von Tausenden.
"Ich bin nicht der Erste, der auf dieser Schule den Wunsch geäußert hat, sagte mir eine Lehrerin". So beginnt die Petition. Bereits dieser Satz macht klar: Tims Schicksal ist kein einzelnes. Ihm scheint es sogar vergleichsweise noch recht gut zu gehen, er wird von den anderen Jungs, nach eigenen Angaben, nicht gemobbt. Bei vielen homosexuellen Jugendlichen sieht es hingegen deutlich schlechter aus. Dabei spielt nicht nur offene, für alle erkennbare Diskriminierung eine Rolle. Es sind gerade die verächtlichen Blicke, die abwertenden Gesten, das beißende Lachen und nicht zuletzt die Angst, was die anderen tun könnten, die jungen Homosexuellen in der Schule oft schwer zu schaffen machen. Viele Schwule kennen das, ein bedrückendes, unbehagliches, bedrohliches Gefühl beim Zusammensein mit den anderen Jungs aus der Klasse. In der Umkleide, im gemeinsamen Zimmer auf der Klassenfahrt oder in der Gruppendusche. Für den Sportunterricht belegt dies etwa Frederik Schaaf in seiner Dissertation Homosexuelle Schüler im Sportunterricht.
Als ich im Bekanntenkreis über die Petition sprach, konnte die Mehrzahl der schwulen Männer Tims Situation aus eigener Erfahrung gut nachvollziehen. So erklärten fast alle, sie hätten auf ihren Klassenfahrten damals gern das Zimmer mit Mädchen geteilt. Mir persönlich ging es auch so. Doch wir alle haben uns damals nicht getraut etwas zu sagen, stillgehalten, mitgemacht. Weil es so aussichtslos erschien, uns in unser Schicksal gefügt. Daher ziehe ich vor Tim meinen Hut, der sich mutig zeigt, sich nicht von Autoritäten zurückschrecken lässt und kämpft!
Es ist kein Naturgesetz, dass homosexuelle Männer immer nur oder besser mit Frauen als mit Männern befreundet sind. Wissenschaftlich betrachtet ist eine solche Tendenz, gerade im schulischen Kontext, jedoch nicht verwunderlich. Männlichkeit definiert sich in unserer Gesellschaft darüber, nicht weiblich zu sein. Und nicht-weiblich ist ein Mann besonders darin, dass er nicht andere Männer begehrt, sondern Frauen. Ein homosexueller Mann bringt diese Konstruktion, ohne dass er etwas tut, einfach indem er anwesend ist, ins Wanken. Weil er eine, vielmehr sogar die verbotene Möglichkeit repräsentiert. Er ist eine Bedrohung mitten unter anderen Jungen, die sich in der Identitätsentwicklung befinden. Jungen, die in einer Gesellschaft, die in den weitesten Teilen Heterosexualität immer noch voraussetzt ihre Identität als heterosexueller Mann festigen und verteidigen. Zwischen Mädchen und homosexuellen Jungen existiert eine solche Spannung hingegen nicht. Und aus diesem Grund sind hier Freundschaften leichter zu schließen.
Wie gesagt, diese Verhältnisse sind nichts Natürliches, sie können sich, wie alle gesellschaftlichen Arrangements verändern. Und schulische Programme zur geschlechtlichen und sexuellen Vielfalt arbeiten daran, Gewalt und Diskriminierung zwischen und innerhalb der Geschlechter zu verhindern. Dennoch macht diese kurze Analyse Tims Bedürfnis und das vieler Anderer verständlicher. Auf der Klassenfahrt mit den Menschen das Zimmer zu teilen, die Freundinnen sind, dieselben Interessen teilen, denen mensch vertraut. Statt mehrere Tage in (leicht) angespannter Atmosphäre zu verbringen, mit Personen, die einem fremd sind und mit denen mensch, wie Tim schriebt, nicht zurechtkommt.
Der Direktor und auch das Bildungsministerium weisen Tims Anliegen verständnislos zurück. In ihrer Ablehnung beziehen sich beide darauf, dass eine Geschlechtertrennung, sexuelle Kontakte zwischen den Schüler_innen unterbinden solle. Doch genau dieses Argument ist schwer haltbar, denn ihm liegen gleich zwei Irrtümer zugrunde:
Es scheint eine tief verankerte bürgerliche Vorstellung zu sein, dass Sexualität nur am Abend und nur in einem Bett stattfindet. Soll heißen, auf einer Klassenfahrt kann Sex zwischen Schüler_innen an so vielen Orten und zu so vielen Gelegenheiten stattfinden, dass sich die Frage stellt, wie dessen Unterbindung überhaupt vollkommen gelingen sollte. Da scheint ein Gemeinschaftszimmer, beinahe noch zu den am besten kontrollierbaren Orten zu zählen, in dem das Lehrpersonal hin- und wieder einen Blick herein wirft und nicht zuletzt ja auch andere Schüler_innen die ganze Nacht anwesend sind.
Der zweite Irrtum ist, dass alle Schüler_innen heterosexuell sind. Und von diesem Irrtum wird auch im konkreten Fall, trotz besseren Wissens nicht abgewichen. So spricht Henning Lipski, Pressesprecher des Ministeriums für Bildung, Wissenschaft und Kultur Mecklenburg-Vorpommern nach Angaben der Zeitung Die Welt trotz Tims Homosexualität von einer möglichen Schwangerschaft der beiden Mädchen, die mit dem Jungen das Zimmer teilen wollen. Es mutet ein wenig nach dem Fall an, dass da etwas nicht sein kann, was nicht sein darf. Ansonsten würde sich nämlich die Frage stellen, wie sinnvoll Sexualität zwischen Schüler_innen durch getrennte Zimmer überhaupt unterbunden werden kann. Homosexuelle Schüler_innen können schließlich ohne jedes Problem gemeinsam ein Zimmer belegen. Wer hier nur einwenden möchte, dass dabei jedoch kein Mädchen schwanger werden kann, dem gebe ich recht und frage zurück: Wie es aber mit sexuellen Übergriffen aussieht, vor denen Jugendliche grundsätzlich geschützt werden müssen. Ist es nicht auch eine Gefahr, dass ein homosexueller Jugendlicher von den anderen Jungs auf seinem Zimmer belästigt, genötigt vergewaltigt wird? Vergewaltigungen homosexueller Männer durch heterosexuelle Männer sind ein der wissenschaftlichen Forschung und dem Strafrecht durchaus bekanntes Phänomen.
Geschlecht und Begehren, Identität und daraus resultierend auch Freundschaften fallen bei jedem Menschen unterschiedlich aus. Heteronormative Vorstellungen spiegeln häufig nicht die Realität wieder. Das lässt sich auch an den endlosen und sinnlosen Artikeln in sogenannten Frauen- und Männerzeitungen ablesen, die darüber sinnieren, ob Frauen und Männer befreundet sein können. Die Autor_innen sollten einen Blick in die Wirklichkeit wagen, denn diese lehrt uns, Freundschaften kennen keine Geschlechtergrenzen – egal ob hetero- oder homosexuell. Das System Schule kann hierauf nun in drei Weisen reagieren. Erstens: Es nimmt diese Widersprüche nicht wahr und legitimiert damit Ungerechtigkeiten. So tun es der Direktor der Schule und das Bildungsministerium momentan. Zweitens: Weil Sexualität auch destruktive Anteile haben kann, vor denen Schüler_innen in Rahmen der schulischen Aufsicht zu schützen sind und weil sexuelles Verlangen zwischen allen Menschen potentiell zirkulieren kann, gibt es auf Klassenfahrten nur noch Einzelzimmer für alle. Eine Lösung, die eher die Absurdität der Argumentation der Verantwortlichen aufzeigt, als ein wünschenswerter Ansatz zu sein. Oder drittens: Schüler_innen gezielt aufklären, darüber was sexuelle Selbstbestimmung, das Recht auf Intims- und Privatsphäre bedeutet und ihnen zutrauen, dieses auch in ihrem persönlichen Leben, etwa auf der Klassenfahrt umzusetzen. Dann sollte es kein Problem sein, wenn sich wie bei Tim, mehrere Mädchen wünschen mit ihrem homosexuellen Freund ein Zimmer zu teilen, zumal wenn dieses auch noch von allen Erziehungsberechtigten ausdrücklich gestattet wird.
Wir sollten immer den konkreten Menschen betrachten. Gerade wenn wir für ihn Verantwortung wie in der Schule übernehmen. Wenn etwas anderes an diese Stelle tritt, wie etwa sein Geschlecht und unsere Vorstellung davon, wie dieses Geschlecht zu sein hat, dann neigen wir zu vermeintlichen Lösungen, die für manche zutreffend sind, aber anderen Schaden zufügen. Doch genau diesen Schaden abzuwenden, ist Sinn und Ziel verantwortlichen pädagogischen Handelns. Darum bete ich dafür, dass die Verantwortlichen eine Einsicht haben und Tim das Zusammensein mit seinen Freundinnen ermöglichen.