"Da drüben sitzt doch auch ein schwules Paar!", fing meine Mutter im Shuttle-Bus zum Festspielhügel an zu kommentieren. "Mutter, der halbe Bus ist schwul...", entgegnete ich. Die erste Woche des Rings bei den Richard-Wagner-Festspielen in Bayreuth war ganz offensichtlich auch eine Woche des schwulen Stelldicheins.
Es wäre sicherlich einen eigenen Blog-Eintrag wert, der Begeisterung schwuler Männer für Opern im Allgemeinen und für Wagner im Besonderen nachzugehen. Das will ich heute aber nicht tun. Ich möchte mich auf den Göttervater Wotan konzentrieren, seine Macht und Ohnmacht in den Blick nehmen, die im Ring zum Ausdruck kommen - und auf diese Weise mich der ideologischen Welt Richard Wagners annähern.
Denn an Wagner scheiden sich ja immer wieder die Geister: Die einen sehen in ihm das revolutionäre Genie, den anderen ist er hochgradig suspekt, weil führende Nationalsozialisten zu den glühendsten Verehrern seiner Musik gehörten. Wie Wagner selbst sich zu der nationalsozialistischen Bewegung verhalten hätte, lässt sich nur mutmaßen, da er ja bereits 1883 gestorben ist. In seiner Broschüre "Das Judenthum in der Musik", unter Pseudonym veröffentlicht 1850, namentlich 1869, vertritt er eindeutig antisemitische Positionen, auch die Figur des Beckmesser in den Meistersingern ist als Karikatur eines Juden gezeichnet (und musikalisch untermalt). Dabei muss man allerdings bedenken, dass Antisemitismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der deutschen Gesellschaft weit verbreitet war. Wer Wagner näher betrachtet - und zwar sowohl die Person selbst als auch seine Musik, entdeckt dagegen sehr schnell, wie unkonventionell, avantgardistisch und revolutionär Wagner war.
Die revolutionären Strömungen der 1840er Jahre konnten Wagner zum Beispiel durchaus begeistern. 1849 beteiligte er sich aktiv am Dresdner Maiaufstand mit dem Ziel, König Friedrich August II. von Sachsen zu stürzen und eine sächsische Republik zu etablieren. Der Aufstand scheitert und Wagner flieht mit gefälschtem Pass in die Schweiz. Die Kritik an feudalen Herrschaftsstrukturen findet sich dann auch im Ring: Der Ring des Nibelungen mitsamt dem dazugehörigen Goldschatz und Tarnhelm gelangt bereits am ersten Abend des vierteiligen Bühnenwerkes in den Besitz des Riesen Fafner. Dieser verwandelt sich mithilfe des Tarnhelms in einen "Riesenwurm", einen Drachen, um in dieser Gestalt seinen Reichtum zu bewachen. Im "Siegfried", dem dritten Abend des Bühnenwerkes, kommen Wotan und sein Widersacher, Alberich, der Herrscher der Unterwelt, gemeinsam zu Fafner, um ihn vor Gefahr zu warnen. Sie wecken den Drachen, doch der hat auf ihre Reden nichts anderes zu entgegnen als "Ich lieg' und besitz', lasst mich schlafen!" Wagner-Interpret*innen verstehen diese Szene immer wieder als Kritik an den Feudalherren des 19. Jahrhunderts, die nach Wagners Ansicht eben nur Reichtum anhäufen, ohne ihn zum Wohle der Menschen einzusetzen.
Fafner freilich vertraut vergeblich auf sein Geld und seine Kraft als Drache, kurz nach dieser Szene wird er von Siegfried erschlagen. Siegfried aber, der tragische Held des Ringes, ist ein Naturbursche, dem jegliche Konventionen fremd sind. Seinen leiblichen Vater und seine leibliche Mutter hat er nie gekannt, für seinen Ziehvater Mime hat er nur Spott und Verachtung übrig. Auch die Würde des Alters respektiert er nicht - als Wotan ihm als greiser Wanderer gegenüber tritt, fühlt sich Siegfried vor allem in seinem Abenteuer- und Liebesdrang gehindert und zerschlägt schließlich mit seinem Schwert Wotans Speer, auf den alle Regeln und Verträge der Welt geschrieben sind. Vor solchen Verträgen und Konventionen hat Siegfried keinen Respekt, für ihn gelten nur der eigene Mut und die Liebe zu den Frauen. Dass er sich (unterstützt durch Hagens Vergessenstrank) gleich Hals über Kopf in zwei Frauen verliebt (Brünhilde und Gutrune) und nebenbei auch gerne noch die drei Rheintöchter vernaschen würde, stürzt ihn dann freilich ins eigene Verderben.
Wotan aber steht nach dieser Begegnung mit zerbrochenem Speer da. "Zieh' hin, ich kann dich nicht halten!", spricht er zu Siegfried. Der Herrscher der Welt völlig machtlos. Verträge und Konventionen können den Sturm und Drang Siegfrieds nicht bremsen, seien sie auch mit noch so viel religiöser Autorität abgesichert.
Doch mehr noch: Wotan selbst scheitert an seinen Verträgen. Durch einen dieser Verträge sind der Goldschatz, der Tarnhelm und der Ring, der unendliche Macht verleiht, in die Hände Fafners gelangt. Sie sind der Kaufpreis für Walhall, die Götterburg, die Fafner und sein Bruder den Göttern gebaut haben. Wotan will die Macht des Ringes wieder an sich bekommen, aber weiß, dass er als Hüter aller Verträge an seinen eigenen Vertrag gebunden ist. So beschließt er, Menschen zu schaffen, die freier sind als er selbst. Mit einer irdischen Frau zeugt er Sieglinde und Siegmund, die aber in früher Kindheit voneinander getrennt werden, als eine verfeindete Sippe das Dorf niederbrennt und Sieglinde zwangsverheiratet. In Siegmund hofft Wotan, den Retter des Rings geschaffen zu haben, und erziehnt ihn entsprechend zu einem freien Helden. Als der erwachsene Siegmund Sieglinde begegnet, verliebt er sich Hals über Kopf in seine Schwester und will sie als seine eigene Frau aus der Zwangsehe retten. Wotan will seine Lieblingswalküre, Brünhilde, beauftragen,das Heldenpaar zu schützen, doch wird von seiner Götter-Frau Fricka daran gehindert: Fricka mahnt Wotan, dass er als Hüter der Verträge den Ehevertrag zwischen Sieglinde und ihrem Ehemann hüten und Siegmund vernichten müsse. Der Göttervater stemmt sich zunächst gegen die göttliche Konvention (der Ehe): "Was so Schlimmes schuf das Paar, das liebend einte der Lenz?" Fricka freilich pocht auf den Vertrag: "Wie töricht und taub du dich stellst, als wüsstest fürwahr du nicht, dass um der Ehe heiligen Eid, den hart gekränkten, ich klage!" Noch einmal bäumt Wotan sich auf, indem er Liebe über Konvention stellt: "Unheilig acht' ich den Eid, der Unliebende eint; und mir wahrlich mute nicht zu, dass mit Zwang ich halte, was dir nicht haftet: denn wo kühn Kräfte sich regen, da rat' ich offen zum Krieg." Doch als Fricka Wotan darauf hinweist, dass es dann wohl "aus sei" mit den göttlichen Göttern, wenn selbst Wotan die "heiligen Verträge" nicht mehr achtet, da muss der Göttervater schließlich kein beigeben.
Der allmächtige Wotan steht also ohnmächtig vor seinen eigenen Verträgen, das Schicksal der Welt entgleitet ihm mehr und mehr aus den Händen. Im Dialog mit Brünhilde betrauert er sein eigenes Geschick: "O heilige Schmach! O schmählicher Harm! Götternot! Götternot! Endloser Grimm! Ewiger Gram! Der Traurigste bin ich von allen!" Er klagt, wie Menschen und Götter in gleicher Weise durch "trübe Verträge" in ihrer Freiheit beschränkt und durch Gesetze "herrisch gebunden" sind, und sieht am Ende des Dialogs nur noch einen einzigen Ausweg: "Fahre denn hin, herrische Pracht, göttlichen Prunkes prahlende Schmach! Zusammenbreche, was ich gebaut! Auf geb' ich mein Werk; nur Eines will ich noch: das Ende, das Ende!"
Hier ist der revolutionäre, der non-konforme Wagner zum Greifen nahe: Die alten Ordnungen tragen nicht mehr, göttliche Gesetze sind sinnentleert oder voller Zwang. In der Auseinandersetzung mit Fricka erscheint die Liebe als Leitmotiv, von der eine neue Welt geprägt sein könnte - doch die tragische Figur des Siegfrieds zeigt, dass auch Sturm und Drang allein nicht zu einer neuen Gesellschaft führen können. So bleibt am Ende des Ringes, in den letzten Klängen der Götterdämmerung nur die klamme Gewissheit, dass weder Geld (der Schatz) noch Macht (der Ring) noch Verträge (Wotans Speer) noch "brünstige Liebe" allein (Siegfried und Brünhilde) die Welt retten können. Die alten Ordnungen und Gewissheiten tragen nicht mehr, aber das Neue, das aufdämmert, ist noch nicht zu erkennen.
Weblinks:
Zu Richard Wagner: https://de.wikipedia.org/wiki/Richard_Wagner
Zu den Meistersingern: http://www.sueddeutsche.de/kultur/oper-wagner-der-rattenfaenger-1.3603803