Anna hat sofort umgestellt, sobald es ging. Sie fand das toll, sie wartete nur darauf. Christian zögerte. Wollte er das wirklich? Oder sollte er sich lieber abmelden? So wegen Datenschutz. Was ich meine? Na, die Chronik! Nein, nicht die beiden Bücher aus der Bibel. Die Chronik auf facebook. War es früher so, dass die diversen Statements, Fotos und Eintragungen von der virtuellen Pinnwand, je länger ihr Verfassen zurücklag, in die Tiefen des Profils rutschten und nur noch für mit sehr viel Zeit und Geduld gesegnete Menschen aufzustöbern waren, bietet die Chronik seit 2011 die Möglichkeit, schier sein ganzes Leben, mit allen wichtigen Ereignissen, von der Geburt oder der Einschulung, über den Schulabschluss, die Verpartnerung oder die Hochzeit, bis hin zum Einzug in den Alterswohnsitz, gut übersichtlich und für jede_n schnell auffindbar online zustellen. Eine Art privates Geschichtsbuch.
Vollkommen neu ist diese Erfindung von facebook nicht. Schon seit vielen Jahrhunderten halten Menschen ihre Erinnerungen fest, sie schreiben sie in Tagebüchern auf, fotografieren oder filmen Szenen aus ihrem Leben. Was ist wohl der Wunsch dahinter? Ich denke, es ist die Sehnsucht danach, dass etwas bleibt. Die Schönheit des Augenblicks – sein Neugeborenes zum ersten Mal in Händen zu halten, den Menschen, den ich liebe nach langer Zeit wiederzusehen oder – vielleicht weniger aufregend, doch genau so schön - einfach einen gemütlichen Abend mit guten Freund_innen zu verbringen. Aber so erfreuend es auch sein kann, alte Bilder durchzusehen, eine vergessene Notiz über einen wichtigen Moment an einem lang zurückliegenden Tag zu lesen, egal wie sehr wir uns bemühen, das Vergangene festzuhalten, am Ende wird immer nur ein Schein, ein Schatten, eine Idee, eine leise Ahnung dessen bleiben was einmal war. Das Gewesene verschwindet und durch nichts auf der Welt können wir es wirklich festhalten. Auch dieser Moment, in dem Sie diese Andacht lesen wird in wenigen Minuten unwiederbringlich zu Ende sein.
Was tröstet uns hierin? Ein Trost kann sein, dass es einen gibt, bei dem diese Momente nicht verloren sind, sondern bei dem sie lebendig bleiben, weil er alles sieht, unser ganzes Leben. Gott, der, der da war, der ist und der da kommen wird, sieht unsere Gegenwart, Zukunft und Vergangenheit. Und das allumfassend, viel genauer als es ein anderer Mensch oder ein Gerät je tun könnte. Auf diesen Umstand beruft sich auch Hiob, wenn er zu seinem Schöpfer sagt: "Sieht er nicht meine Wege und zählt alle meine Schritte?" (Hiob 31,4). Hiob spricht das aus einer Situation heraus, in der er sich ungerecht behandelt fühlt. Seine Familie, ja seine ganze Existenz hat er verloren. Nun hadert er mit Gott: "Warum hast Du das gemacht? Habe ich nicht immer alle Deine Gebote befolgt? Du hast es doch gesehen!", ruft er dem Sinn nach zu seinem Herrn.
Ich greife hier nicht die der Hiobsgeschichte innewohnende Frage auf, ob Gott die Menschen straft, die seine Gebote nicht befolgen und die, die diese halten belohnt. Mein Punkt ist ein anderer: Viele kennen solche Momente, in denen sie Hiobs Situation nachempfinden können. Du fühlst dich zu Unrecht einer Sache bezichtigt, die du nicht begangen hast oder gescholten für etwas, für das du nichts kannst und das auch nicht schlimm ist. Gescholten, bezichtigt, nicht von Gott, sondern von Menschen. Etwa weil du Christ_in bist, weil du nicht heterosexuell oder nicht cisgeschlechtlich bist, weil du vor Verfolgung in ein fremdes Land geflohen bist, um dein Leben zu retten. Gründe aus denen andere schlecht von dir denken, über dich reden und gegen dich handeln. Sie meinen, dass du Gott nicht ernsthaft liebst, weil du mit einem Partner gleichen Geschlechts zusammenlebst, dass du charakterlich unreif bist, weil du Frauen und Männer begehrst oder dass du sündigst, weil du mit dem dir bei der Geburt zugeschriebenen Geschlecht nicht länger bezeichnet werden willst. Was ich hier exemplarisch für Geschlecht und Sexualität beschreibe, dürften viele aus eigener Erfahrung kennen und eben daher auch wissen, wie weh so etwas tut. Hier kann uns Gottes alles sehender Blick ein großer Trost sein. Denn wenn kein Mensch an unsere Unschuld glaubt, dann kannst du dir dennoch sagen: "Ich weiß, da ist einer, der weiß wie es wirklich ist, der kennt mich, der sieht nicht das, was vor Augen ist, sondern sieht das Herz an - wie es bei Samuel heißt" (1. Sam 16,7).
Gott sieht nicht nur die schönen Momente in unserem Leben. Und auch nicht nur die Momente, in denen wir zu Unrecht bezichtigt werden. Er sieht auch das Schlimme, das wir selbst unseren Geschwistern in Gedanken, Worten und Taten zufügen. Er sieht unsere Sünde. Ein Bruder hat mir einmal erzählt, dass ihm dieser Gedanke des alles sehenden Gottes, der einfach alle seine Verfehlungen von Geburt an mitbekommen hat, ziemlich beängstigt. Und wirklich, die Vorstellung eines allgegenwärtigen Big Brothers, der Schritt und Tritt überwacht, kann Furcht hervorrufen. Aber so ist Gott nicht! Gott sieht die Sünde, ja, aber er vergibt sie auch denen, die sie bereuen. Jesus nimmt die Sünder an, heißt ein alter Kirchenchoral von Erdmann Neumeister. Christus verzeiht. Er tut sogar noch mehr. Er versteht. Er versteht, warum wir sündigen, er weiß, was dem Streit, was der Lüge, dem Unglauben vorangegangen ist. Er sieht etwa die Nöte des Mannes, der eine Frau geheiratet hat, obwohl er damals schon wusste, dass er homosexuell ist und dessen Ehe nun zerbrochen ist. Das ist das Wesen Christi. Wo andere nur die gute oder nur die schlechte Seite sehen, wo wir ausschließlich nach einem Fehltritt oder einer Spitzenleistung bemessen und bemessen werden, da sieht Gott das ganze Bild. Er bringt zusammen, was wir nicht vermögen. Er liebt das Gute und das Versagende in uns.
Daher gilt, was wir in dem wunderbaren Lobpreislied von Andrea Adams-Frey und Albert Frey immer wieder singen: "Und ich danke dir, das du mich kennst und trotzdem liebst". Ja, Gott sieht alle unsere Schritte und er liebt uns. Trotzdem. AMEN.