"Konzentrationslager" und "Schwule", das sind die ersten beiden Begriffe, die mir die Internetsuchmaschine google vorschlägt, wenn ich das Wort "Tschetschenien" in die Maske eingebe. Und diese drei Begriffe werden nicht zufällig assoziiert, denn folge ich den Vorschlägen von google, so stoße ich auf hunderte von Medienberichten, die schildern, wie homosexuelle Männer in der russischen Republik systematisch verfolgt, ja wie Tiere regelrecht gejagt, anschließend in Lager gesperrt und dort gefoltert, mache sogar ermordet werden. Seitens des Großteiles der Bevölkerung, so lese ich, gibt es keine Solidarität mit den Opfern. Das Innenministerium erklärt, zu den Vorfällen befragt, dass es eine solche Verfolgung gar nicht geben könne, weil, so wörtlich: "Man muss niemanden festnehmen oder unterdrücken, den es in unserer Republik gar nicht gibt". Eine Antwort, deren grausamer Zynismus kaum noch zu überbieten ist. Wenn ich dann noch Fotos sehe, die zeigen, wie homosexuelle Männer verhaftet werden, wie tschetschenische Polizisten_in dabei hasserfüllt schauen oder wie die offiziellen Regierungsvertreter, darauf angesprochen, milde in die Kamera lächeln, dann muss ich manchmal wegschauen, wegschalten, etwas Anderes tun. Ich kann das nicht mehr ertragen. Mich überfordert das. Es droht mich innerlich zu zerreißen. Ich weiß, dass es nicht nur mir so geht. Und gerade darum will ich wissen, wie können wir als Christ_innen mit solch unermeßlichem Leid umgehen?
"Herr, stärke mich, dein Leiden zu bedenken, mich in das Meer der Liebe zu versenken", lautet der Anfang des Passionsliedes von Christian Fürchtegott Gellert, das auch heute in vielen Karfreitagsgottesdiensten gesungen wird. Diese ersten Worte des Chorals, der ein inniges Gebet ist, geben uns eine segensvolle Wegweisung, wie wir als Christ_innen mit dem Leid in dieser Welt ungehen sollen.
"Herr", ist das erste Wort des Gebetes. Und das ist zentral. Als Christ_innen beziehen wir uns nicht auf irgendjemanden, sondern immer nur auf den einen. Auf Gott. Auf Gott, der nicht menschenfern ist, der nicht irgendwo oben in seiner Herrlichkeit thront, der für seine Schöpfung nicht unnahbar ist. Gott ist nah. Gott ist da, für uns. Konkret. Jetzt. Immer. Er versteht uns. Er begreift uns. Auch in unserem Leiden, ja gerade da. Gott ist in Jesus Christus Mensch geworden. Das ist nicht einfach ein frommer Satz. Das ist die wichtigste Erkenntnis, der sich ein Mensch annähern kann. Jesus, das ist nicht nur das niedliche Baby in der Krippe und auch nicht nur der Auferstandene am Ostermorgen. Jesus ist auch der, der um seine Hinrichtung wusste, das ist der, der vor Angst geschwitzt hat in Gethsemane, der verhaftet wurde, der von den Soldaten verhöhnt, geschlagen, bespuckt, gefoltert wurde, der unschuldig verurteilt wurde, dessen Körper geschändet und ans Kreuz genagelt wurde. Jesus ist unser Bruder. Unser Nächster. Er hält zu uns als ein Wissender, als ein Gezeichneter, als ein Gekreuzigter.
Sich diesen Gott in seinem Leiden zu vergegenwärtigen ist nicht einfach. Etwas in uns Menschen strebt danach, dem Leid auszuweichen. Die Auseinandersetzung mit dem Leid, sei es unser eigenes, das unserer Geschwister oder das unseres Heilands steht dem unweigerlich entgegen. Deshalb rufen wir in dem Lied Gott an "stärke mich, dein Leiden zu bedenken". Wir brauchen die Gnadengabe göttlicher Kraft, um uns mit Leiden befassen zu können. Selbst dann, wenn uns diese Gabe zuteilwird, ist es nicht einfach. Gedanken an das Leid konfrontiert uns mit unserer Ohnmacht, mit Wut, Trauer, Angst, Zerrissenheit, Dunkelheit, dem Gewahrwerden der eigenen Begrenztheit und Vergänglichkeit. Es ist die Abwehr dieser Emotionen, die mich und andere so oft wegschauen lassen. Wie bei den Verbrechen, die gerade in Tschetschenien verübt werden. Das Zeugnis Christi gebietet uns aber etwas anderes. Ja, auch Jesus betete im Garten Gethsemane angsterfüllt: "Lass diesen bitteren Kelch an mir vorübergehen!" (Mk 14,36), aber als klar war, dass der Vater dieser Bitte nicht entspricht, da hat sich der Heiland dem Leid gestellt. Nachfolge Christi bedeutet es ihm gleichzutun. Christ_innen sollen sich dem Leid stellen. Das kann auch beinhalten, sich dem Leid entgegenzustellen.
Was heißt das für unser Leben? Sollen wir uns dem Leid der Welt durch unsere Taten entgegen stellen? Auch dazu sind wir aufgerufen, sicherlich, aber nicht allein, nicht zuerst. Bevor wir handeln, müssen wir eingestehen, dass wir als Menschen unfähig sind, dem Leid dieser Welt vollumfänglich zu wehren. Das ist der erste, der wichtigste Schritt. Begreifen wer wir im Angesichte Gottes sind. Demut üben. Wenn ich mich dem Leid stellen will, wenn ich nicht länger weggucken will, dann muss ich meine Begrenztheit, meine Ohnmacht und meine Angst eingestehen. Nur wenn wir das tun, dann übermannen uns diese Gedanken nicht länger und wir sind frei, unsere Blicke auf das Leiden zu richten. Wie soll das gehen? Woher sollen wir die Kraft dafür nehmen? Wie können wir unsere Begrenztheit ertragen lernen? Geben kann uns diese Freiheit Gott allein. Versenken wir uns in sein Meer der Liebe, so wie es im Lied bei Gellert so wunderbar heißt. Weit weg ist dieses Meer nicht. Es ist immer nur ein Gebet entfernt. In der Zwiesprache mit unserem Schöpfer dürfen wir die eigene Begrenztheit beklagen und wir werden getröstet. Wir können das Leid, das wir empfinden, vor den bringen, der die Liebe ist, der aus Liebe bis an Kreuz gegangen ist. Und wir dürfen gewiss sein, dass unsere Worte das Gehör des Höchsten finden. Wir können darauf vertrauen, dass unsere Worte das Herz Gottes erreichen. Dass er sich unser und derer die da leiden annimmt.
Erst dadurch werden wir frei zu handeln. Erst dann sind wir wirklich wirksame Werkzeuge Gottes, die dem Leiden auch durch ihre Taten wehren können. Dabei ist jede_r unterschiedlich begabt. Im Gebet gilt es dem nachzuspüren, was Gottes konkrete Aufgabe für uns ist. Was sieht er für uns vor? Was sollen wir mit unserer kleinen Kraft anfangen, um etwa dem Unrecht, dem Leid, der Folter und dem Mord in Tschetschenien beizukommen? Der Möglichkeiten sind viele. Organisieren wir Gebetskreise, -nächte, Bittgottesdienste, Demonstrationen und Mahnwachen. Sammeln wir Geld für Nicht-Regierungs-Organisationen, bringen wir das Unrecht ins Gespräch, machen in den sozialen Netzwerken, bei unseren Nachbar_innen und Freund_innen darauf aufmerksam, fragen wir bei unseren Dekan_innen, unseren Landeskirchen, Bischöf_innen und der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) nach, was sie tun und fordern wir, wenn nötig mehr Engagement ein. Und beten wir unablässig für unsere verfolgten Geschwister.
"Herr ich bitte dich für unsere Geschwister in Tschetschenien, beende du ihr Leiden.
Tröste unsere Geschwister.
Sei Du der liebende Bruder, der auch in der ärgsten Not die Hand nicht loslässt.
Stürze du die Gewaltigen, die Gewalt tun vom Thron.
Und benutze mich als dein Werkzeug und zeige mir immer wieder neu, was ich trotz meiner engen Grenzen tun kann um dem Leiden zu wehren.
Dir sei alle Ehre jetzt und in Ewigkeit. AMEN."