Es ist einige Jahre her, da begleitete ich einen jungen Mann auf dem Weg, zu seiner homosexuellen Begabung zu stehen, vor sich selbst sowie vor seinen Mitmenschen. Nicht überall erntete er damit positive Reaktionen. Der evangelische Pfarrer, zu dem er ein Vertrauensverhältnis hatte, habe kühl reagiert. "Schau mal in die Bibel", waren die knappen, schmallippigen und mahnenden Worte des Geistlichen.
Geht es um homosexuelle Liebe, homosexuelles Begehren und homosexuelle Paare, dann begründen viele Menschen ihre ablehnende Haltung mit dem Verweis auf die Heilige Schrift. Sie nehmen Rekurs auf das 3. Buch Mose (3. Mos 18,22 ff., 20,13) und die Paulusbriefe (Röm 1, 26-28, 1. Kor 6, 9-10). So ist es auch häufig in den Kommentaren unter dem kreuz & queer Blog zu lesen. Die Gegenargumente, die dann andere vorbringen, lauten, dass diese Bibelstellen im zeitlichen Kontext gelesen werden müssen, dass sie in einer patriarchal geprägten Zeit geschrieben wurden, in der es noch keine Konzepte homosexueller Identitäten im heutigen Sinne gab. Darauf entbrennt in der Regel eine hitzige Diskussion. Diejenigen, die gleichgeschlechtliche Verhaltensäußerungen ablehnen, argumentieren, die Bibel sei Gottes unverfälschtes Wort, das keiner Interpretation bedürfe. Sie warnen davor, die Heilige Schrift zu relativieren, indem einzelne Verse für weniger gültig als andere erklärt werden, denn das gefährde das Fundament unseres Glaubens. Auch für mich ist die Bibel eine unveräußerliche Grundlage des Glaubens, daher kann ich die Sorge, die in solchen Aussagen durchklingt, gut nachvollziehen. So fragt ja schon von Zinzendorf in seinem Lied Herr, dein Wort, die edle Gabe zu recht: "Wenn dein Wort nicht mehr sollt gelten, worauf sollt der Glaube ruhn?" Doch wie noch aufzuzeigen ist, ist das Handeln derer, die ein wörtliches Bibelverständnis so vehement vertreten, ein Handeln, das dem eigenen Anspruch nicht gerecht wird, ja ihn sogar konterkariert.
In 3. Mose 20,13 heißt es: "Wenn jemand bei einem Manne schläft wie bei einer Frau, so haben sie beide getan, was ein Gräuel ist, und sollen des Todes sterben; ihre Blutschuld komme über sie". Der zweite Versteil erklärt homosexuell begehrende Menschen für todeswürdig. Das ist ebenso der Fall in 3. Mose Kapitel 18 sowie dem Römerbrief (Röm 1,32). Wie nun mit diesen Abschnitten umgehen? Was bedeuten diese Zitate für diejenigen, die den Anspruch erheben, es handle sich hierbei um Gottes zentrale Anweisungen, wie mit gleichgeschlechtlich Sexhabenden zu verfahren sei? Was sollen Christ_innen mit diesen Geschwistern auf der Grundlage des aufgezeigten Bibelverständnisses tun, wenn der Wortlaut dieser Bibelstellen sie ausdrücklich als todeswürdig bezeichnet? Mehr als einmal habe ich erlebt, dass die eben noch so leidenschaftlich biblizistisch argumentierenden Christ_innen angesichts dieser Frage verstummen. In den sozialen Medien folgt zumeist gar keine Antwort mehr. Bei Podiumsdiskussionen wird ausgewichen. Dabei liegt es doch auf der Hand, was getan werden müsste. Nach dieser Bibellesart sollen homosexuell begehrende Menschen des Todes sterben. Vielleicht durch Steinigung, so wie es ja zu Zeiten des Alten Testamentes durchaus üblich war.
Genau dieser Anspruch, der nach einem vermeintlich wortgetreuen Bibelverständnis mehr als legitim wäre, wird allerdings nicht erhoben (oder nur sehr, sehr selten). Warum? Hier scheint das Dogma einer wörtlichen Bibelauslegung an seine Grenzen und in ein unauflösbares Dilemma zu geraten. Wer ernsthaft jeden Bibelvers als gleichwertig und -gültig ansehen will, der kommt nicht umhin, dem Zeugnis und den Geboten Christi hier eine Absage erteilen zu müssen. Alles andere, also die Relativierung der Tötungswürdigkeit Homosexueller, wäre aus dem Dogma der vermeintlichen Worttreue heraus betrachtet, eine Relativierung des Glaubens an Gott.
Wie lässt sich nun erklären, dass so wenige biblizistisch argumentierende Christ_innen den Tod ihrer gleichgeschlechtlich liebenden und/ oder begehrenden Geschwister fordern? Und warum wird die Todesaufforderung in der Zitation der angegebenen Bibelstellen so oft weggelassen? Es liegt auf der Hand, dass auch die die Homosexualität ablehnend gegenüber stehen sehr wohl ein deutendes, auslegendes Bibelverständnis haben. Auch sie erklären einige Stellen der Heiligen Schrift für gültiger als andere. Der Unterschied ist, dass die Seite, die für die Gleichberechtigung von Lesben und Schwulen argumentiert, in der Regel offenlegt, nach welchen Prinzipien sie die Bibel interpretiert, etwa mit den Methoden der Hermeneutik, der Phänomenologie oder der historisch-kritischen Forschung. Die andere Seite macht ihre Interpretationsparadigmen nicht transparent, weil sie ja vorgibt, überhaupt keine zu haben. So erscheint es allzu oft völlig willkürlich, welche biblischen Gesetze, Sitten und Bräuche nun gelten und welche nicht. Warum ordiniert etwa eine Gemeinde Frauen – was Paulus strikt verneint (1. Kor 14, 34-35) – aber weigert sich, Homosexuelle zu trauen? Lesen diese Menschen die Bibel durch eine Brille des Paternalismus, des Heterosexismus oder des Konservativismus, einer Brille, die auf der eine Seite nur verschwommen und auf der anderen dafür übermäßig scharf sieht?
Kein Mensch hat einen direkten Zugang zu der Wahrheit Gottes, auch nicht durch das noch so eifrige Studium der Heiligen Schrift. Dass wir immer auf eine Auslegung angewiesen sind, macht Jesus deutlich, indem er, wie in den Evangelien mehrfach bezeugt wird, die Menschen lehrt, was die Propheten des Alten Testamentes sagen (Lk. 2, 41-52, Mt.22, 23-46). Und es ist ein Gebot der Ehrlichkeit, diese Bedürftigkeit einzuräumen. Andernfalls erhöben wir unsere Interpretation zu einem Dogma, einem Dogma, das äußerst sündhaft ist, weil wir uns an die Stelle dessen setzen, der die Bibel durch seinen Heiligen Geist inspiriert hat. Deshalb ist es notwendig, die Interpretationsbedürftigkeit der Bibel anzuerkennen sowie die eigenen Interpretationsparadigmen offenzulegen, kritisch zu reflektieren und sich der Diskussion über sie zu stellen.
Meine Bibellesart ist, wie bei vielen evangelischen Christ_innen, eine reformatorische. Luther schlägt vor, die Bibel von der Mitte her zu verstehen. Mit dieser Mitte meint er Jesus. Alle Bibelstellen sollen im Lichte der Offenbarung der Barmherzigkeit Gottes in Jesus Christus interpretiert werden. Auf dieses Fundament lässt sich auch die biblische Bewertung von homosexuellem Begehren, homosexueller Liebe und Partner_innenschaft gründen. Jesus Christus äußert sich nicht zu Homosexualität. Überhaupt sind Themen wie Ehe, Familie und Fragen der sexuellen oder geschlechtlichen Identität für ihn nicht sonderlich zentral. Er selbst scheint beispielsweise ledig gewesen zu sein, eine besondere Bedeutung von familiärer Blutsverwandtschaft lehnt er deutlich ab (Mt. 12, 46-50) und er stellt klar, dass die Ehe etwas Weltliches ist, was im Himmelreich keinen Bestand haben wird (Mt. 22,23-28). Seine Botschaft ist eine des Heils, der Gnade und der Versöhnung. Das Gebot der Liebe erhebt Christus zu dem höchsten über alle Gebote (Mt. 22,37-40). Sein Zeugnis ist das der Anwaltschaft für jene, die von der Gesellschaft ausgestoßen werden (Lk. 5, 12-16, Lk. 19, 1-10). Durch sein Handeln weist Jesus heteronormative Restriktionen immer wieder zurück (Joh. 4,1-45, Mk. 5, 25-34).
Dem jungen Mann, den ich damals auf dem Weg zu seiner homosexuellen Begabung zu stehen, begleiten durfte, habe ich von diesem Jesus wie er in den Evangelien bezeugt ist, erzählt. Und anschließend habe ich ihm in etwa das Folgende geraten: "Lass Dich von Deinem Pfarrer nicht verunsichern. Dieser Mann liebt das Gesetz. Höre auf Jesus Christus. Versenke Dich in seine Liebe. Lass Dich immer wieder - nach Gottes Gnade - vom Heiligen Geist erfüllen. Lebe Jesus nach. Und wenn Du Bibel liest, dann bete und frage Jesus Christus, was er Dir mit seinen Worten sagen will".