Nachdem die evangelische Kirche sich lange Zeit nicht viel bewegt hatte in Sachen lesBischwule Rechte und antidiskriminatorische Kirchenpolitik, tut sich seit ein paar Jahren umso mehr. Besonders auch was Verlautbarungen und Veröffentlichungen betrifft: So war die heftig diskutierte sog. Familienschrift (“Zwischen Autonomie und Angewiesenheit”) von 2013 ein emanzipatorischer Vorstoß, was die Vielfalt und Akzeptanz von unterschiedlichen Lebensweisen betrifft. Seit letztem Jahr gibt es nun eine informative und anschauliche Online-Broschüre zum Thema queere Lebensweisen.
Die 39-seitige Publikation ist, nach einem Grußwort des EKD-Ratsvorsitzenden Heinrich Bedford-Strohm, unterteilt in einen informativen Teil (Beobachtungen und Einschätzungen zur Situation von Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgender weltweit) und einen liturgischen Teil (Bausteine für den Gottesdienst) und schließt mit weiterführenden Links und Empfehlungen zu Informationsquellen ab.
Auf den ersten Seiten wird Andrea Kämpf vom Institut für Menschenrechte über Diskriminierungserfahrungen und die rechtliche Situation von LGBT* (Lesbians, Gays, Bisexuals, Transgender) in verschiedenen Ländern interviewt. Sie stellt fest:
“Die Menschenrechtsorgane haben nun angefangen, das Diskriminierungsverbot aufgrund sexueller Orientierung und Geschlechtsidentität auszubuchstabieren. Wichtig ist: LSBTI* haben keine Sonderrechte, sondern ihre Rechte sind Ausdruck der allgemeinen Menschenrechte, wie das Recht auf körperliche Unversehrtheit, das Recht auf Zugang zu Bildung, Freiheit von willkürlichen Festnahmen und Folter. Sie gelten für alle Menschen.” (S. 7)
Kämpf betont vor allem auch den (post-)kolonialen Aspekt von homo- und trans*-feindlichen Zuständen in den verschiedenen Ländern. Die “westlichen” Industrieländer tragen aufgrund ihrer ausbeuterischen Politik genauso Verantwortung für Menschenrechtsverletzungen an LGBT*-Personen in anderen Ländern.
Dem Interview folgt eine kartographische Auswahl, die gewalttätige Übergriffe auf LGBT* weltweit darstellt. Berit Völzmann von der Universität Frankfurt informiert dann auf den darauf folgenden Seiten über die Rechtssituation und die Verfolgung homosexueller Menschen in Deutschland, wo besonders an das Leid von schwulen Männern vor, während und nach der Nazizeit erinnert wird (die Verfolgung lesbischer Frauen wird leider nicht erwähnt).
Eine spannende Auswahl von queeren Stimmen weltweit zeigt, wie unterschiedlich die Erfahrungen sein können – und gleichzeitig wie ähnlich. Hier kommen Schwule, Lesben, Bisexuelle, Trans*-Menschen, bigender, Queers of Color u. a. zu Wort. Auch das wichtige Thema Flucht und Queersein fiindet in der Materialsammlung besondere Beachtung.
Der Teil mit den liturgischen Bausteinen gibt Anregungen und Vorschläge für queer-inklusive Gottesdienste und bietet somit die Möglichkeit, die zuvor beschriebenen Lebensweisen in gottesdienstliches Handeln auch explizit einzubringen. Wie können verschiedene, vom Mainstream abweichende, Lebensformen in Bezug auf Gender und sexuelle Orientierung auch im Gottesdienst Berücksichtigung und Wertschätzung finden. Die Fürbitte I (S. 20) von Pfarrer Sven Sabary zum Beispiel geht über die Akzeptanz der verschiedenen Formen von Liebe und Geschlechtlichkeit.
“Hilf Menschen, Ängste abzubauen vor anderen Formen der Liebe.
Lass uns verantwortungsvoll verschiedene Lebensformen leben können.
Wir rufen zusammen: Gott, Dein Wille geschehe.”
(Ausschnitt)
Das Materialheft bietet im Schlussteil neben Kontaktadressen zu queeren Vereinen und Anlaufstellen auch Film- und Literaturtipps (darunter auch der Blog “Kreuz und Queer”) und Kollektenvorschläge. Es ist informativ, in verständlicher Sprache geschrieben und durch die verschiedenen Textsorten bzw. Materialien wunderschön abwechslungsreich gestaltet. Besonders hervorzuheben ist hier das Glossar, in dem die verwendeten Begrifflichkeiten verständlich und differenziert erklärt warden.
Umso enttäuschender ist der unsensible Umgang mit dem Akronym LSBTI*, das in der Online-Broschüre durchweg verwendet wird, um queere – das heißt lesbische, bisexuelle, schwule, trans* und inter*–Lebenswelten zu bezeichnen. Das I in LSBTI* steht nämlich für Inter* (= Intergender / Intergeschlecht / Intersexualität …). Inter*-Menschen sind Menschen, die mit sog. uneindeutigen Geschechtsmerkmalen geboren wurden, und die Uneindeutigkeit bezieht sich hier darauf, dass sie nicht (eindeutig) in das gewaltvolle und konstruierte Schema passen, dass es nur Männer und Frauen – und nichts dazwischen und nichts darüberhinaus – gäbe. Die Geschichte von Inter*-Menschen ist lang und wurde genauso lange verschwiegen. Die meisten Inter*-Menschen mussten in ihrem Leben gewaltvolle Zwangsoperationen erleiden, da man glaubt(e), sie zu einem “richtigen Mädchen” oder einem “richtigen Jungen” machen zu müssen. Diese Lebensgeschichten sind voller Traumatisierungen (die sich im Erwachsenenleben oft wiederholen), voller Kämpfe, zur eigenen Geschlechtsidentität stehen zu können und akzeptiert zu werden, auch und vor allem rechtlich. Manche Inter*-Menschen sehen ihren Kampf vielmehr darin, nicht pathologisiert und verstümmelt zu werden, ihr Recht auf körperliche Unversehrtheit und einen Geschlechtseintrag jenseits von “männlich” oder “weiblich” zu haben und die Gewalt, die ihnen angetan wurde, anerkannt zu bekommen. Manche Inter*-Menschen sehen sich als Teil der Regenbogenfamilie und finden es gut, in dem Akronym LSBTI* mitgenannt zu werden, andere sehen darin eine Verwaschung ihrer Geschichten und ihrer Forderungen. Es gibt Vermischungen mit Homo-Bi-Trans*-Forderungen – gerade wenn es um das Thema geschlechtliche Marginalisierungen und Diskriminierungen geht, aber es sollte immer differenziert betrachtet werden: Dort, wo man das I* mit drauf schreibt, sollte es meines Erachtens dann auch um Anliegen der Inter*-Communities gehen.
Dies fehlt in der Broschüre der EKD leider vollständig. Es geht an keiner Stelle explizit um Rechte, Gesetze und Erfahrungen zum Thema Intersexualität. Es ist einerseits gut, dass Intersexualität mit gedacht wird, indem das I* dabei steht, andererseits wird genau auf das “vergessen”. Wo es um die Rechte Homosexueller geht, soll meines Erachtens nicht LSBTI* stehen – auch wenn es Überschneidungen gibt, ist es wichtig nicht alles in einen Topf zu werfen, vor allem nicht, wenn es um die Forderungen der einzelnen Communities geht.
Auch manche Formulierungen zu Trans* in dem Heft sind kritisch zu sehen: So mögen die einen Transsexuellen/Transgender/Trans* sich in der Formulierung “im falschen Körper (gewesen) zu sein” wiederfinden, für viele andere jedoch trifft das nicht zu. “Das Geschlecht verändern” kann insofern eine problematische Formulierung für Trans*-Menschen sein, da sie ihr wahres, d. h. ihr eigenes, Geschlecht vielleicht schon lange fühlen / leben und ihnen nur ein anderes – für sie nicht passendes – zugeordnet wurde. Begriffe wie “umoperieren” und “Geschlechtswechsel” propagieren zudem ein Zweigeschlechtersystem, in dem man von einem (z. B. Mann) zum anderen Geschlecht (z. B. Frau) wechselt. Die Vielfalt der Geschlechter, die die Grenzen der Dichotomie Mann-Frau sprengt, wird hier nicht berücksichtigt. Auch sind geschlechtsangleichende Eingriffe nicht für jede Trans*-Person das Mittel der Wahl.
Auch der Titel der Broschüre ist unglücklich gewählt: “Recht auf Gleichbehandlung ungeachtet sexueller Orientierung und Identität” – es geht schließlich, so der Anspruch der Veröffentlichung selbst, auch um geschlechtliche Identität.
Wirklich gelungen hingegen ist die Vielfalt der Stimmen in der Broschüre: Den Lesenden wird deutlich, dass es etwas ausmacht, welche Hautfarbe und Herkunft, welche Lebensbedingungen jemand hat, wenn er_sie als Lesbe, Schwuler, Bisexuelle_r oder Trans*-/bigender lebt. Ein weißer schwuler Mann in den USA zum Beispiel hat andere Bedingungen und Möglichkeiten als eine lesbische Schwarze Frau in den USA, oder gar in einem Land, wo beispielsweise Homosexualität noch immer unter Strafe gestellt ist.
Ich nehme trotz meiner kritischen Anmerkungen diese fortschrittliche Schrift mit Freude und Dankbarkeit wahr. Eine solche Veröffentlichung bedeutet eine klare Positionierung der Evangelischen Kirche, die Anerkennung von nicht heteronormativen Lebensweisen und macht Lust auf inklusive Gottesdienste – auf Kirche!
Link zum Materialheft:
https://www.ekd.de/download/tag_menschenrechte_2016.pdf