"Zwischen den Jahren" – das klang schon als Kind für mich nach einer irgendwie geheimnisvollen Zeit. Da war erst die lange Vorfreude auf Weihnachten, viele Verwandte, der Besuch von Freund_innen der Familie und schließlich kam das Christkind. Und danach war es noch nicht vorbei! Alle waren in einer eigenartigen Stimmung: Die Erwachsenen hatten (meist) frei, man ging schlittschuhfahren und auf lange Märsche durch den Schnee, hörte Musik, sang viel, machte viele Besuche und wartete – ja auf was eigentlich: auf das Jahresende oder den Jahresanfang? Früh schon war mir klar: Das beides gehört zusammen! Das alte Jahr ist fast vorbei, das neue hat noch nicht begonnen …
"Ich wünsche mir, dass ich mir im neuen Jahr nicht nur Sachen wünsche, sondern auch mit mehr Nachdruck versuche, mir diese Wünsche zu erfüllen, zumindest ein paar davon", sagte ein Freund von mir, als wir über den Jahreswechsel sprachen. Andere von uns haben schwere Verluste in diesem Jahr zu betrauern. Wenn geliebte Menschen verstorben sind, fällt es möglicherweise eher schwerer, das neue Jahr positiv zu begehen; aber vielleicht ist es umso wichtiger, das alte Jahr intensiv zu verabschieden.
"Geh weg, 2016!", postete eine Freundin diese Woche auf Facebook. Egal ob man ein neues Jahr (und damit verbunden neues Glück) herbeisehnt, oder ob man das alte am liebsten in die Tonne befördern will: Es lohnt sich, dies zu zelebrieren. Darum feiern wir auch Silvester. Bleigießen und Raketen für die einen, allein abtauchen in der Badewanne für die anderen. Beides ist gut. Denn beides ist die bewusste Entscheidung für ein Ritual – fürs Abgrenzen oder fürs Mittendrin-Sein. Silvester und Neujahr zwingen uns dazu, uns zu entscheiden. Sie markieren das Ende von „Zwischen den Jahren“. Neben den üblichen (Nicht-)Feiereien sollte man vor allem eines: innehalten. Ob im Gebet, in der Meditation, mit einem Gottesdienstbesuch, bei einem Waldspaziergang … In der Stille Kraft tanken für Transformationen.
Für mich ist zwischen den Jahren auch gleichzeitig die queerste Zeit im Jahr. Ein Zeitfenster, durch das ich ins Nicht-Festgelegte schaue, ins Alles-Möglich_e, ins Nichts. Ich muss einmal nicht produktiv sein, keinen Output leisten. Ich gehe ohne Ziel zurück in alte Zeiten, streife um die Häuser in meiner Heimatstadt, treffe alte Schulfreund_innen, die ansonsten kaum mehr teilhaben an meinem Leben, wieder und spüre dabei einerseits, wie schnell die Zeit vergangen ist und andererseits wie wenig sich zwischen Menschen verändert, wenn sie sich einmal lieb gewonnen haben. Ich gehe auf den Friedhof, um die geliebten und vermissten Verstorbenen für einen Moment zurückzuholen in mein Leben, gehe absichtlich lange Wege, um Orte meiner Kindheit und Jugend wiederzufinden und um dann festzustellen, wie klein die Welt ist, die mir damals so groß vorkam. Und: Ich schlafe grundlos und unnötig lang. Es gibt gerade nichts zu verpassen.
"Passez un bon moment", sagt man auf Französisch, wenn man sich eine gute Zeit wünscht. Das wünsche ich allen Kreuz-und-Queer-Leser_innen: Einen besonderen Moment zwischen den Jahren!