Ich bin krank gewesen, und ihr habt mich (nicht) besucht...
Wie steht es 35 Jahre nach der Entdeckung von HIV um die Aufklärung in der deutschen Gesellschaft? Und warum engagieren sich Kirchen, Caritas und Diakonie von Anfang an für Menschen mit HIV und Aids?

Am 1. Dezember jährte sich zum 35. Mal die „Entdeckung“ des HIV-Virus. Weltweit ist der 1. Dezember zum Tag des Aids Gedenkens geworden. Rainer Hörmann hat in seinem Blogbeitrag der letzten Woche anschaulich beschrieben, welche unterschiedlichen Emotionen sich mit diesem Tag verbinden.

35 Jahre HIV und Aids, das heißt 35 Jahre leben mit der Angst vor einem frühen und hässlichen Tod, das heißt 35 Jahre Ausgrenzung und Stigmatisierung der Infizierten, das heißt aber auch 35 Jahre Solidarität der Gay Community mit ihren Kranken und Sterbenden, 35 Jahre Aufklärungsarbeit und Aids-Prävention, 35 Jahre Forschung und medizinischer Fortschritt.

Ich selber lebe seit mehr als zehn Jahren mit dem Virus, es ist ein Teil von mir geworden. Glücklicherweise freilich habe ich mich zu einer Zeit infiziert, als bereits die neue Medikamentengeneration auf dem Markt war. Hätte ich zu den frühen Infizierten gehört, ich würde wohl nicht mehr leben – oder hätte zumindest schwere körperliche Probleme, eventuell auch „nur“ infolge der Nebenwirkungen der ersten Medikamentengenerationen. So aber kann ich ein alltägliches Leben führen, bin körperlich fit und belastbar. Und seitdem mehrere Studien nachgewiesen haben, dass Menschen, die sich in Therapie befinden und deren Viruslast daher unter der Nachweisgrenze ist, auch niemanden anstecken können, ist auch beim Sex die Sorge, was passieren könnte, verschwunden.

Doch manchmal gibt es Situationen, in denen ich merke, wie schnell das Virus dann doch andere irritieren und für mich selber zu einer Bedrohung werden kann. Nach einem Fahrradunfall musste in der letzten Woche der Bänderriss an meinem Daumen operativ gerichtet werden. „Sie sind Pfarrer – dann brauche ich nach Infektionskrankheiten ja nicht zu fragen…“, meinte die Klinikmitarbeiterin bei der Patientenaufnahme. „Doch, doch“, sagte ich, „HIV, seit Jahren therapiert und Viruslast unter der Nachweisgrenze.“ Ich merkte ein kurzes, überraschtes Zucken im Gesicht meines Gegenübers. So wurden die Informationen dann allerdings auch im Patientenbogen notiert: „HIV, unter Nachweisgrenze“.

Die Operation verlief gut, aber kurz vor der Entlassung kam eine Assistenzärztin zu mir und bat, ob sie mir Blut abnehmen dürfe: „Eine Kollegin hat bei der Operation einen Blutspritzer auf die Wange bekommen, da wollen wir auf Nummer sicher gehen.“ Ich willigte ein, verbunden mit dem Hinweis, dass ja schon im Patientenbogen zu sehen sei, dass ich seit Jahren unter der Nachweisgrenze liege. Damit war die Sache für mich zunächst geregelt, doch je länger ich in den nächsten Tagen darüber nachgedacht habe, desto überraschter, um nicht zu sagen erschrockener war ich darüber, dass eine angehende Chirurgin im Jahr 35 nach HIV und Aids der Meinung sein konnte, sie werde durch einen Blutspritzer auf die Haut einer Infektionsgefahr ausgesetzt.

Wie steht es also wirklich um die HIV- und Aids-Aufklärung in unserer Gesellschaft? Und wie schnell werden wir als Infizierte dann doch wieder zu Opfern von Ausgrenzung und Stigmatisierung?

So schwer sich die Kirchen Anfang der achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts in aller Regel noch mit einer Gleichstellung von Lesben und Schwulen getan haben, so engagiert haben sie doch von Anfang an Aidskranke und Sterbende betreut. Viele Aidsberatungsstellen befinden sich bis heute in Trägerschaft von Kirche, Caritas und Diakonie.

Die Diakonie Bayern hat schon in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts – und damit in den ersten Jahren der Pandemie – eine Broschüre herausgegeben, in der sie sich gegen jede Diskriminierung und Ausgrenzung von HIV-Infizierten stellt. Sie betont, dass die Begleitung von Kranken und Sterbenden zu den sieben Werken der Barmherzigkeit gehört (Mt 25). Gerade in den Anfangsjahren der Pandemie, als Menschen wirklich sehr schnell gestorben sind, haben viele durch Krankenhaus-Seelsorgerinnen und -Seelsorger, vor allem aber auch durch die Aids-Pfarrämter und ihre Seelsorgerinnen und Seelsorge Unterstützung und Begleitung erfahren. Gleichgeschlechtliche Lebenspartner wurden damals oft noch von den Familien nicht akzeptiert. Trauergottesdienste im Rahmen der Aids-Pastoral waren für sie dann oft die einzige Möglichkeit, von ihrem Partner Abschied zu nehmen. Im Laufe der Jahre sind ganz eigenständige Formen von Spiritualität entstanden, die Menschen dabei unterstützen, mit dem Virus zu leben oder mit ihren Verlusten umzugehen. Bei den jährlichen Aidsgottesdiensten lässt sich dies nach wie vor beobachten.

In Deutschland und anderen industrialisierten Ländern sind HIV und Aids heute nicht mehr lebensbedrohlich. Doch immer noch bedeutet eine HIV-Diagnose einen Schock, der Menschen aus der Bahn wirft, immer noch braucht es Unterstützung auf dem „langen Weg zurück zum Leben“ (so der Titel einer aktuellen Ausstellung der Diakonie Bayern). Und immer noch braucht es offenbar auch die Aufklärungsarbeit in unserer Gesellschaft, damit Menschen mit HIV und Aids nicht ausgegrenzt und diskriminiert werden.

 

Tipp zum Weiterlesen: Aids Ü30, Werkstatt Schwule Theologie 17/2015