Am vergangenen Montag hielt ich einen Vortrag an der Universität Hamburg. Ich war vom Zentrum Disability Studies (ZeDis) an der Evangelischen Hochschule für Soziale Arbeit & Diakonie eingeladen worden, über die Verschränkungen der Konzepte Queer und Dis_ability zu sprechen. Die spannende Vortragsreihe, die noch das Wintersemester über läuft, dreht sich um das Thema "Inclusive Religions?! Beiträge zur Dekonstruktion von Dis/Abled Bodies in religiösen Kontexten". Anliegen der Ringvorlesung ist es, die Gretchenfrage umzustellen: "Fragte Gretchen in Goethes Faust noch: 'Sag mir, wie hast du’s mit der Religion?' hinterfragen wir in der Veranstaltung umgekehrt die Religion: 'Sag mir, wie hast du’s mit uns?'"[1]
In Anlehnung an die Queer-Theologie, die Gender und Begehren in den Fokus einer dekonstruktiven Befreiungstheologie stellt, und die Crip Theory (engl. Crip = Krüppel), die ebenso dekonstruierend die Dichotomie zwischen Behinderung und Nicht-Behinderung auflösen möchte, kann man "cripping and queering the church" betreiben. Radikale Forderung: Ich wünsche mir eine Kirche, in der sich queere und behinderte Menschen wohlfühlen. Eine Predigt, wo behinderte und queere Menschen, aber auch People of Color, ein selbstverständliches Thema sind und v. a. mit ihrer eigenen Narrative vorkommen – und nicht dazu benutzt werden, um weißen, sog. nicht-behinderten, heterosexuellen und cisgeschlechtlichen (cis = Gegenteil von trans*)[2] Menschen als Vorlage für ihre Hilfsbereitschaft dienen. Ich möchte im Gottesdienst keine liturgischen Methoden mitmachen müssen, wo gruppenweise dichotomisch nach Männern und Frauen aufgeteilt wird. Viele meiner Freund_innen werden dadurch ausgegrenzt, weil sie sich weder zu den Männern noch zu den Frauen zählen. Sie werden inexistent gemacht. Und ich möchte auch keine Lieder mitsingen, in denen Behinderung als etwas zu Heilendes transportiert wird. Am Sonntag wurde ich in Hamburg netterweise in einen wunderbaren und wichtigen Gedenkgottesdienst für die Toten an den EU-Grenzen mitgenommen. Leider sangen wir das Lied 'Von den Rändern dieser Erde', wo es heißt: "Für die Blinden, für die Lahmen, für Zerbrochene und Alte pflanze ich den eignen Weinstock und heile sie." Warum muss Dis_ability – aber auch Altern – auf einer Stufe mit Zerbrochenem stehen und mit Geheiltwerden in Verbindung gebracht werden?
Soll nicht gerade Kirche ein Ort sein, wo sich Menschen, die tagtäglich mit Ausschluss konfrontiert sind, zu Hause fühlen können! Die Toilette (siehe Bild) als Veranschaulichung von Ausgrenzung und Gewalt mag manchen lächerlich oder primitiv vorkommen. Sie ist aber für manche behinderte wie queere Menschen oft der Dreh- und Angelpunkt des Ausschlusses - und zwar wohlgemerkt eines Örtchens, das mensch zum Leben nötig hat! Für Menschen, die sich auf keines der Geschlechter Mann oder Frau festlegen können oder wollen oder oft falsch gelesen werden in ihrem Gender kann es zu einer Psycho-Tortour werden, ein gegendertes Klo aufzusuchen. Für Menschen in Rollis beispielweise gibt es oft erst gar keine Toiletten, oder nur solche nicht geeignet genug für deren Bedürfnisse. Wie sieht es mit den Toiletten in Ihrer Gemeinde aus?
Cripping und queering the church bedeutet, achtsam zu sein, Normalitäten permanent in Frage zu stellen. Und: das Potenzial, was christliche Traditionen in sich tragen, zu nutzen. Auf schräge, ungerade Figurationen unaufgeregt und ermächtigend zu verweisen, im Gottesdienst, in der Öffentlichkeitsarbeit, im Engagement – in der Theologie!
Warum sehe ich so viele Menschen mit Dis_ability in queeren Gottesdiensten?! Dort, wo Normen kreativ durchbrochen werden, fühlen sich oft ganz viele unterschiedliche Menschen wohl – und es geht hier sicherlich nicht nur ums gemeinsame Allianzenbilden unter Misfits.
Robert McRuer, der die Crip Theory etablierte, erklärt: "Die Crip Theory geht weiter als Rollstuhlrampen und Gefälligkeiten oder Integration in die Gesellschaft, wie sie derzeit ist. Sie will fortlaufend erörtern, wie Kulturen und soziale Beziehungen Form annehmen und wie man diese Form verändern könnte."[3] So oft beschleicht mich das Gefühl, behinderten Menschen werde in Kirche und Theologie 'geholfen' und lesBischwule Lebensweisen toleriert (tolerare = ertragen!). Der Ordnungscharakter, der fantasielose Dichotomien festschreibt, positioniert Menschen in 'oben' und 'unten', und vor allem: in Mehrheit und Minderheit. Wie sollten nicht mehr von Mehrheiten und Minderheiten sprechen, sondern vielmehr von Überzeugungen und die wirkungsmächtigen Diskurse dahinter genauer ansehen, meldete sich Jürgen Homann, wissenschaftlicher Mitarbeiter im ZeDiS, in der Diskussion nach meinem Vortrag zu Wort. Und selbst wenn: Ist nicht gerade die 'Minderheit' nach christlichem Verständnis aber eine Norm?!
Aber natürlich geht es beim "cripping the church" auch um Kirchengebäude, um die Macht der Institution und ihrer Architekturen[4], die an der Herstellung von Be_hinderung genauso beteiligt sind wie sprachförmige Gewaltakte: Es ist mehr als ein Ärgernis, wenn eine Kirche bei großen Feierlichkeiten wie jetzt aktuell zum Lutherjahr 2017 darauf verzichtet, ihre Veranstaltungen barrierearm zu gestalten bzw. in ihren Ankündigungen keinerlei Hinweise auf Barrieren gibt und nicht einmal auf die Email einer hörbehinderten Person antwortet, wo die beschämende Frage gestellt werden musste: Wo kann ich denn teilnehmen? Dies ist nur ein ermüdendes Beispiel von vielen, vorgekommen in meiner Heimatstadt.
"Ob schöpfungstheologisch oder eschatologisch begründet, ist es aus christlicher Perspektive angezeigt, gesellschaftliche Engführungen von Rollenzuschreibungen [seien sie auf Gender, Hautfarbe oder Dis_ability bezogen] zu destruieren, damit alle Menschen in einer dem Leben zugewandten und menschenwürdigen Gemeinschaft in [größtmöglicher] Freiheit leben können. Christliche Theologie und kirchliche Praxis haben aus eigener Tradition heraus nicht nur die Pflicht sondern auch und vor allem die [als Gottes Geschenk verstandene] und von Jesus Christus gelebte Freiheit, bei gesellschaftlichen Ausschlüssen nicht teilzunehmen, sondern Menschen mit Marginalisierungs- und Diskriminierungserfahrungen [wahrhaft] zu inkludieren […]. Christliche Handlungsweise – ob politisch oder persönlich – hat die Freiheit, fernab von heteronormativer, neoliberalistischer, kapitalistischer, ethnisierender und ableistischer Logik für den Menschen als Mensch zu votieren."[5]
Der Text meines gesamten Vortrags wird voraussichtlich in Kürze über die Homepage des ZeDis abrufbar sein. Die Ringvorlesung findet noch bis 30.01.17 immer montags von 16-18h im Raum 006 in der Sedanstraße 19 in Hamburg statt. Die Vorträge sind offen für alle Interessierte[6] – auch nicht Universitätsmitglieder. Das Programm und Hinweise zur Barrierefreiheit finden Sie hier:
http://www.zedis-ev-hochschule-hh.de/veranstaltungen/studium/wintersemester-201617/ringvorlesunginclusive-religions-beitraege-zur-dekonstruktion-von-disabled-bodies-in-religioesen-kontexten.html
[1] Aus dem Ankündigungstext der Ringvorlesung. https://www.aww.uni-hamburg.de/oeffentliche-vortraege/programm/20-inclusive-religions-ws1617.html
[2] Cismenschen fühlen sich anders als Trans*menschen wohl mit dem Gender, das ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde.
[3] Robert McRuer, Queer Meets Disability, übers. v. von Timo Kohorst, Vortrag im Rahmen des Workshops 'Queer Meets Disability' am 4. Januar 2010 an der Universität Hamburg, 5, http://www.zedis-ev-hochschule-hh.de/files/mcruer_queer_meets_disability_04012010.pdf (10.11.2016).
[4] Vgl. Foucault.
[5] Katharina Payk, Segnung und Trauung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften. Queer-theologische Interventionen in alte und neue Diskussionen. In: Kirchmeier, Bernhard (Hg.): Empfehlenswert und praktisch! Perspektiven junger Theologinnen und Theologen auf die Lebensdienlichkeit christlicher Religionskultur, Leipzig 2015, 83–106, 20.