Matthias Albrecht hat es am Freitag in diesem Blog in Worte gefasst: Das allgemeine Entsetzen über den Ausgang der Wahlen in den USA. Nicht nur hier auf evangelisch.de, sondern auch in Tageszeitungen und Talkshows war die Frage allgegenwärtig: Wie kann einer die Wahlen gewinnen, der es mit der Wahrheit nicht so genau nimmt, der gar als „König des legalen Unterschleifs“ gelten kann, wie Kurt Kister in seinem Kommentar in der Süddeutschen Zeitung vom 10. November 2016 formuliert hat?
Diskutiert wurde in diesem Zusammenhang auch eine Äußerung von Angela Merkel. Diese hatte bereits im vergangenen Jahr angemerkt, dass sie den Eindruck habe, wir lebten in einem „postfaktoralen“ Zeitalter. Einer Zeit also, in der nicht Fakten, sondern Emotionen zählen und entscheidungsleitend werden. In der Kritik steht dabei immer wieder die Informations-Flut im Internet: Gerade zu politischen Themen ist eine Vielfalt von Meinungen und (Verschwörungs-)Theorien zu finden, deren Anhalt an den tatsächlichen Fakten oft nur schwer zu überprüfen ist. Und immer mehr Nutzerinnen und Nutzer scheinen mit solch einer Überprüfung – oder selbst einer kritischen Einschätzung des Gelesenen – überfordert zu sein.
Schwulen Männern ist dieses Problem auf einer ganz unmittelbaren Ebene bekannt – jedenfalls, wenn sie sich einschlägiger Datingportale bedienen: Der Nutzer, der sich selbst mit 38,184,78, athletisch und den entsprechenden Bildern präsentiert hat, öffnet die Tür und offenbart sich als Mitvierziger mit deutlichem Bauchansatz. Der späte Faktencheck führt zu einem Abbruch das Dates.
In der Ökumenischen Bibellese für den heutigen Tag kommt der 2. Petrusbrief auf das Problem der Wahrheit zu sprechen:
„Darum will ich euch allezeit daran erinnern, obwohl ihr's wisst und gestärkt seid in der Wahrheit, die nun gegenwärtig ist. Ich halte es aber für richtig, solange ich in dieser Hütte bin, euch zu wecken und zu erinnern; denn ich weiß, dass meine Hütte bald abgebrochen wird, wie es mir auch unser Herr Jesus Christus eröffnet hat. Ich will aber allen Fleiß darauf verwenden, dass ihr dies allezeit nach meinem Hinscheiden im Gedächtnis behaltet. Denn wir sind nicht ausgeklügelten Fabeln gefolgt, als wir euch kundgetan haben die Kraft und das Kommen unseres Herrn Jesus Christus; sondern wir haben seine Herrlichkeit mit eigenen Augen gesehen. Denn er empfing von Gott, dem Vater, Ehre und Preis durch eine Stimme, die zu ihm kam von der großen Herrlichkeit: Dies ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe. Und diese Stimme haben wir gehört vom Himmel kommen, als wir mit ihm waren auf dem heiligen Berge. Umso fester haben wir das prophetische Wort, und ihr tut gut daran, dass ihr darauf achtet als auf ein Licht, das da scheint an einem dunklen Ort, bis der Tag anbricht und der Morgenstern aufgeht in euren Herzen. Und das sollt ihr vor allem wissen, dass keine Weissagung in der Schrift aus eigener Auslegung geschieht. Denn es ist noch nie eine Weissagung aus menschlichem Willen hervorgebracht worden, sondern getrieben vom Heiligen Geist haben Menschen in Gottes Auftrag geredet.“ (2. Petrus 1,12-21)
Die Passage ermahnt die Leserinnen und Leser, an der Wahrheit festzuhalten, die der Autor verkündet hat. Er beruft sich dabei auf die Macht des Heiligen Geistes, die in der Taufe Jesu offenbar geworden ist und die auch Petrus bei der Verklärung Jesu erlebt hat.
Dieser Hinweis ist aus zweifacher Sicht problematisch: Zum einen, weil bei der Verklärung Jesu eigentlich nur bestätigt wird, was seit der Taufe schon offenbar geworden ist: „Dies ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe.“ Über den Inhalt der Verkündigung Jesu (oder seiner Jünger) wird an dieser Stelle nichts weiter erzählt. Zum anderen aber, weil der Autor die Autorität seiner Verkündigung aus der Tatsache herleitet, dass Petrus mit Jesus auf dem Berg war und die Verklärung unmittelbar miterlebt hat. Aus 2. Petr 3,4 wird aber deutlich erkennbar, dass der Autor gar nicht Petrus selbst sein kann, da hier der Hinweis zu finden ist, dass die Christinnen und Christen der ersten Generation bereits alle verstorben sind.
Der Autor des Briefes gehört also bestenfalls zu den Anhängern des Petrus, zu einer Petrus-Schule, wenn wir sie einmal so nennen wollen. Er beruft sich auf die Person des Apostels, um damit seine eigene Autorität zu stärken. Das ist in der Antike nicht unüblich und genauso wenig ist es für antike Leserinnen und Leser anstößig, wenn ein Autor sich dann dabei gleich selber als der Apostel ausgibt – wir würden das heute natürlich als Plagiat verstehen.
Egal, welcher Konfession wir angehören: Natürlich berufen auch wir uns heute gerne auf große Gestalten in unserer eigenen Tradition – als Lutheraner will ich meiner Argumentation besonderes Gewicht geben, wenn ich darauf verweise, dass auch Martin Luther schon ähnliche Gedanken gehabt hat (und zum Beispiel den Zweck der Ehe nicht allein in der Fortpflanzung gesehen hat, sondern der Liebe zwischen den Partnern einen unmittelbaren Wert zuspricht), einer reformierten Christin sind vermutlich der Heidelberger Katechismus oder Calvin besonders wichtig. Die römisch-katholische Kirche kennt die Tradition der Kirche ja sogar als offizielle zweite Quelle der Offenbarung neben dem biblischen Zeugnis.
Ähnlich wie der Autor des Zweiten Petrusbriefes lesen wir unsere jeweilige Tradition natürlich immer mit einem spezifischen, gegenwärtigen Interesse – und damit aus einer bestimmten Perspektive. Wir greifen das auf, was in der Tradition einmal als tragfähige Wahrheit erkannt und worden ist, und formulieren daraus, was wir heute für wahr und zutreffend halten.
Gerade der Protestantismus hat daraus eine Bildungs- und Streitkultur entwickelt: Martin Luther übersetzte die biblischen Texte nicht zuletzt deswegen ins Deutsche, damit jedes Gemeindeglied fähig wäre, die Verkündigung des Predigers anhand des biblischen Zeugnisses zu beurteilen. Da die Gemeindeglieder dazu auch des Lesens fähig sein mussten, entstand ein breites kirchliches Schulwesen. Protestantische Synoden sind heute immer wieder ein Beispiel dafür, wie in intensiver Diskussion um die Wahrheit gerungen wird.
Im Umfeld von Donald Trump sind etliche Protestanten zu finden – allerdings aus dem extrem konservativen Lager. Ähnlich wie der Autor des Zweiten Petrusbriefes berufen sie sich gerne auf das Gewicht der Tradition, um Veränderungen abzulehnen – oder, wie viele jetzt befürchten, rückgängig zu machen.
Was ich Donald Trump, seinem zukünftigen Team und den Amerikanerinnen und Amerikanern wünsche? Dass sie sie oft allzu vereinfachenden „Wahrheiten“ des Wahlkampfes nun einem Faktencheck unterziehen – und dass sie über all die Gräben und Wunden, die in den letzten Monaten entstanden sind, zu einer Streitkultur über die Wahrheit zurück finden. Darüber, was ein Land für alle Menschen lebenswert macht. Wenn das passiert, dann ist das ein Zeichen des Heiligen Geistes, das der Verklärung Jesu wenig nachsteht…