Erntedank haben wir am vergangenen Sonntag (2.10.) gefeiert. Erstaunlicherweise habe ich als Beauftragter für Umwelt- und Klimaverantwortung an diesem Sonntag meist nichts zu tun. Dabei wäre es doch nahe liegend, an diesem Tag über die Vielfalt von Gottes Schöpfung nachzudenken - und darüber, wie wir diese Vielfalt zerstören.
In den meisten (städtischen?) Gemeinden wird Erntedank als Familiengottesdienst gefeiert. Kindergarten- und Grundschulkinder gestalten den Gottesdienst mit, oft auch den Erntedankaltar. Interessant bis fast schon skuril, was da dann manchmal alles als Erntedankgaben zu finden ist. Im Zentrum des Gottesdienstes steht häufig der Dank für ein Jahr gutes Miteinander in der Familie.
Ich selber habe Erntedank dieses Jahr auf dem Kongress der christlichen Regenbogengruppen gefeiert - als Teilnehmer im Gottesdienst. Auf dem Altar, neben Kreuz und Abendmahlsgeräten, zwei kleine Äpfelchen. "Was sollen die Äpfel?", fragte eine Teilnehmerin neben mir. "Ist doch Erntedank", meinte ein anderer Nachbar. "Ach, doch so viel Erntedank-Gaben!", lachte die erste. Und tatsächlich: Als Erntedank-Altar bot der Tisch ein sehr trauriges Bild...
Haben wir als Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transsexuelle, Transidentische, Intersexuelle oder Queers (LSBTTIQ) tatsächlich so wenig zu danken? Oder haben wir über der Familienzentrierung der gemeindlichen Erntedank-Gottesdienste schlicht und einfach unsere Dimensionen des Dankes vergessen?
Ich habe 1988 angefangen mich für eine Gleichstellung von Lesben und Schwulen (ja, der "Buchstaben-Salat" LSBTTIQ war damals tatsächlich noch nicht im Blick) zu engagieren. Für einen Theologiestudenten war das damals durchaus nicht ungefährlich: etliche Landeskirchen schlossen offen schwul lebende Männer und offen lesbisch lebende Frauen von der Ordination aus. Wenn ich heutigen Studierenden von den Debatten erzählte, die wir damals führen mussten, dann schütteln sie den Kopf und fühlen sich in ein anderes Zeitalter versetzt. Auch dass es vor 30 Jahren durchaus nicht selbstverständlich gewesen wäre, dass ein Klaus Wowereit oder eine Barbara Hendricks nach ihren Outings ihre Führungspositionen behalten, ist für viele jüngere Queers kaum mehr vorstellbar.
Wir haben in Kirche und Gesellschaft unglaublich viel erreicht - auch wenn wir mit dem Status Quo noch nicht in allem zufrieden sind. Doch dafür können wir wirklich dankbar sein und Gott danken: Danken, für die Sichtbarkeit und Sicherheit, die wir heute haben, danken für die Menschen, die mit uns auf diesen Wegen gekämpft, gelitten und gebangt haben - oft genug heterosexuelle Frauen und Männer, die die Vielfalt des Regenbogens als Geschenk und nicht als Bedrohung erlebt haben.
Danken können wir aber auch für die Gemeinschaft, die unter uns entstanden ist: Ich erlebe es als große Bereicherung, beim CSD oder anderen (Groß-)Veranstaltungen mit den verschiedensten LSBTTIQs zusammen zu sein. Natürlich führt das immer wieder auch zu Verunsicherungen: Welches Personalpronomen benutze ich, wenn ich zum Beispiel von Ines-Paul erzähle, der schon im Vornamen deutlich macht, dass mit der Transition die Vergangenheit als Frau nicht einfach untergegangen ist? Warum regen sich die lesbischen Teilnehmerinnen über die Morgenandacht des Kollegen auf, in deren Mittelpunkt das Magnifikat steht - ein Text, den ich selber in Lateinamerika als revolutionär und befreiend zu verstehen gelernt habe? Dass Maria sich in dem Lied selbst als "Magd Gottes" bezeichnet und dies ganz und gar nicht der spirituellen Grundhaltung der Teilnehmerinnen entspricht, wird mir nachhaltig im Gedächtnis bleiben...
Vielfalt fordert, aber Vielfalt bereichert - für so viele Facetten unseres vielfältigen Miteinanders lohnt es sich, Gott zu danken. Ein Segen, dass wir dieses vielfältige Miteinander leben können, ein Segen, dass es immer wieder gelingt!