Mitte Januar in Arosa (Schweiz): Einige hundert schwule Männer - und wenige lesbische Frauen - treffen sich zur gay skiweek. Gemeinsam fahren wir die verschneiten Hänge herunter, tanzen wir in die Nacht hinein... Anstrengend, ausgelassen, fröhlich, erholsam - eine Woche jenseits jeden Alltags. Kein Wunder, dass Menschen aus ganz Europa und darüber hinaus immer wieder hier her kommen!
Im Zug zurück in die "Normalität" sitze ich zusammen mit einem Freund aus Polen, den ich seit Jahren in Arosa treffe. In Chur werden sich unsere Wege trennen, vielleicht wieder für ein ganzes Jahr. "Wenn ich nächstes Jahr nicht da bin, dann schickt mir eine Karte ins Gefängnis!", sagt er, "Am besten mit einem Karton Schnee von hier." Irritierte Blicke, ich frage: "Wie kommst du denn auf so eine absurde Idee?" Der Freund erzählt, mit wie viel Sorge er die Entwicklung seit den polnischen Wahlen im Herbst beobachtet: Die konservative, national-religiöse PIS hat die absolute Mehrheit im Parlament errungen. Diese hat sie sofort genutzt, um das Verfassungsgericht zu entmachten und die öffentlich-rechtlichen Medien gleichzuschalten. Polens Außenminister Witold Waszcykowski betonte, die Regierung wolle damit "lediglich unseren Staat von einigen Krankheiten heilen, damit er wieder genesen kann“, denn ein "Mix von Kulturen und Rassen, eine Welt aus Radfahrern und Vegetariern, die nur noch auf erneuerbare Energie setzt und gegen jede Form der Religion kämpft“ passe nicht zu traditionellen polnischen Werten. (Quelle: Tagesspiegel online)
Bei solchen Äußerungen eines Ministers wundert es nicht, dass der Freund befüchtet, dass in dem nationalistischen, fundamentalistisch katholischem Weltbild der PIS auch kein Platz für queere Menschen sei. "In der letzten Woche haben sie in den Grundschulen die Lehrbücher ersetzt, in denen über Gender gesprochen wurde - aber nicht, weil da ein Mann einen Mann liebt oder eine Frau eine Frau, sondern weil der Vater nach dem Essen abspült. An Herd und Spüle aber gehört für die PIS die Frau."
Ich spüre die Angst des Freundes: Er ist unter anderem in der Kulturförderung tätig, lebt als offen schwuler Mann in der Hauptstadt Warschau. Ein weltoffener Mitvierziger, der sich in London genauso gerne bewegt wie in Berlin. "Immer mehr Freunde denken ernsthaft darüber nach, Polen zu verlassen", erzählt er, "aber das empfände ich als Verrat an meinem Land".
Seit zehn Jahren habe ich verschiedene gute Kontakte nach Polen. Ich habe erlebt, wie begeistert die Menschen die Integration in die europäische Union aufgenommen haben - die Fußball-Europameisterschaft 2012 war wie eine große Bestätigung "Wir gehören dazu!", das ganze Land war in Volksfeststimmung...
Gerade in den Großstädten des Landes herrschte in den letzten Jahren eine große Offenheit - gegenüber Europa, aber auch gegenüber Lesben und Schwulen. Ein anderer Freund hatte mir noch Ende der 00er-Jahre gesagt, dass er nie zum Warschau-Pride gehen würde, weil das viel zu gefährlich sei. Im vorletzten Jahr schwärmte er von der ausgelassenen Stimmung, die an diesem Tag in der Stadt geherrscht habe. Die absolute Mehrheit der PIS stellt alle diese Errungenschaften einer offenen Gesellschaft in Frage...
Über die Motivation der PIS ist in den letzten Wochen viel diskutiert worden - klar ist, dass ein erz-konservativer Katholizismus eine wichtige Rolle spielt. Insbesondere im Osten des Landes und vor allem in den ländlichen Regionen leben viele Menschen nach einem traditionellen römisch-katholischen Familienbild. Den "Wert der Familie" will daher auch die PIS hoch halten - und alles bekämpfen, was dieses fundamentalistische Familienbild in Frage stellt.
Das "Europäische Forum" der christlichen LGBTIQ-Gruppen hat in den vergangenen Jahren viele Projekte initiiert, um queere Menschen in den osteuropäischen Ländern zu stärken und zu unterstützen. Selbstbewusste Männer und Frauen sind daraus hervor gegangen, die sich mit ihrer sexuellen Orientierung nicht mehr verstecken. (zur Webseite des Forums) Können wir jetzt tatenlos zusehen, wenn religiös-nationalistische Regierungen wie in Polen plötzlich zu einer Bedrohung dieser Freiheit werden?
Die europäische Union sieht in Polen demokratische Freiheiten bedroht und prüft, ob sie den neuen Rechtsstaatsmechanismus aktiviert und Warschau unter Aufsicht stellt. Das hat der für Medienfragen zuständige Kommissar Günther Oettinger am 3. Januar erklärt. Überraschend die Reaktionen darauf: Während verschiedene CDU- und CSU-Politiker (vor allem aus dem Europa-Parlament) seitdem in Interviews betonen, dass Pressefreiheit und Unabhängigkeit der Justiz zu den Grundfesten Europas gehören, die nicht infrage gestellt werden dürften, vertrat der außenpolitische Sprecher der Bundestagsfraktion von Bündnis90/Die Grünen, Omid Nouripour, der zugleich auch Mitglied des Menschenrechtsausschusses des Bundestages ist, im tagesschau-Interview vom 3. Januar die Auffassung, dass Zwangsmaßnahmen unangebracht seien und man vielmehr Verständnis für Polen haben müsse. In einem Mailwechsel mit mir bekräftigte er daraufhin, dass "wir den Wählerwillen auch ein Stück weit respektieren“ müssten, "auch wenn uns der Ausgang der Wahl in Polen nicht gefällt und die gegenwärtige Politik der aus den Wahlen hervorgegangenen Regierung“.
Ich habe meinen polnischen Freund im Zug gefragt, welche Reaktion er denn für angemessen hielte. Ratlosigkeit war zu spüren, dann: "Ich bin froh, dass in Polen selbst so viele auf die Straßen gehen – aber mit den Mitteln der Demokratie können wir in unserem Land nichts mehr bewegen. Eher die Abstimmung mit den Füßen, wenn die Leute das Land verlassen. Klar, wenn jetzt ein deutscher Kommissar oder ein deutscher Vorsitzender des EU-Parlaments sich zu Wort melden, dann passt das voll in das Feindbild der PIS vom bösen Deutschen – aber deswegen zu schweigen und nichts zu tun, wäre auch falsch.“ Leider hat auch der deutsche Außenminister, Frank-Walter Steinmeier, bei seinem Besuch in Warschau in der letzten Woche zumindest öffentlich zu all diesen Themen geschwiegen - obwohl es doch offensichtlich nicht nur darum geht, ob man Brokkoli mag oder nicht (zum Bericht im Deutschlandfunk).
"Wehret den Anfängen!“ – vielleicht wäre es doch einmal wieder an der Zeit, sich auf diesen Ruf Ovids zu besinnen…