Vor vielen Jahren nahm ich an einer Geburtstagsfeier teil. Während wir in fröhlicher Runde am Tisch saßen, kam die Mutter der Jubilarin herein. Die Mutter erklärte, sich über die große Anzahl an Gästen zu freuen und es schön zu finden, dass auch ein Junge der Einladung gefolgt sei. Darauf ging sie zu einer der anwesenden jungen Frauen herüber und herzte diese. Das führte zu lautem Lachern und mindestens drei roten Köpfen. Was war passiert? Die Mutter hatte nicht mich als männlich erkannt, sondern einen der weiblichen Gäste als Jungen identifiziert. Obwohl ich damals aus vollem Herzen mitlachte, entschuldigte sich die Mutter sowohl bei der jungen Dame als auch bei mir.
Werden wir mit dem falschen Geschlecht angesprochen, löst das häufig zunächst Belustigung oder Irritation aus. Wird das Geschehen dann beiderseitig als Irrtum eingeordnet, lassen Menschen die Sache in der Regel schnell auf sich beruhen. Anders sieht es aus, wenn so etwas öfter und sogar absichtlich passiert. Beispielsweise wenn das Finanzamt eine Frau, die in einer eingetragenen Lebenspartnerschaft lebt, auf dem Steuerbescheid immer wieder mit "Herr" statt "Frau" anschreibt. Oder wenn die Kolleg_innen den Mitarbeiter, der nach ihrem Urteil ein zu weibliches Verhalten an den Tag legt, hinter vorgehaltener Hand oder vielleicht sogar ganz offen "Frau Mayer" statt "Herr Mayer" nennen. Solches Verhalten erleben die meisten als Ärgernis, Mobbing, Erniedrigung, als Ausdruck symbolischer Gewalt. Geschlecht ist ein so elementarer Teil unserer Identität, dass wir eine vorsätzliche Missachtung unserer geschlechtlichen Zugehörigkeit kaum akzeptieren können.
Viele Menschen fühlen sich als Frau oder Mann. Und wenn sie das Glück haben, dass ihre körperliche Beschaffenheit sowie ihr Verhalten dem entspricht, was die Gesellschaft unter einer Frau oder unter einem Mann versteht, dann können sie ihre gefühlte geschlechtliche Identität leben. Sie können ihre Persönlichkeit frei entfalten. Was aber ist mit denjenigen, die sich weder als weiblich noch als männlich erleben? Und denen, die beide Gelechter als Teil von sich empfinden? Vielleicht weil ihre Chromosomen nicht als XX und auch nicht als XY zu klassifizieren sind. Oder weil sie sowohl mit weiblichen als auch mit männlichen primären Geschlechtsmerkmalen geboren sind und sich daher – oder aber auch ganz unabhängig davon – weder als Frau noch als Mann fühlen?
Unsere Sprache kennt nur zwei Geschlechter. Doch kann daraus folgen, dass die Menschen, die sich in diese Binarität nicht einordnen können, deshalb kein Recht auf die Anerkennung ihrer Identität haben? Die Antwort auf diese Frage lautet in vielen Fällen: Ja. Mit grausamen Folgen. Säuglinge, deren Genitalien nicht zugeordnet werden können, werden auch heute noch häufig verstümmelt. Intakte Geschlechtsorgane wie Penisse, Hoden oder Eierstöcke werden amputiert und landen wie Abfall im Krankenhausmüll. Kinder werden schwer in ihrer Entwicklung beeinträchtigt, weil ihre Seele dem ihnen aufoktroyierten Ideal Mädchen oder Junge zu sein nicht genügt. Eltern, Ärzt_innen und Psychiater_innen drängen sie zu Therapien und Verhaltensweisen, die eine Eindeutigkeit herbeizwingen sollen, die dem Wesen der Kinder dabei aber zutiefst widerspricht. Auch im Alltag werden die, die sich außerhalb der als gültig erklärten geschlechtlichen Grenzen bewegen, durch Nicht-Nennung, Nicht-Berücksichtigung und Unsichtbarmachen für nicht existent erklärt. Das sind höchst ideologische Akte. Nicht die Sprache soll das, was sie bezeichnet abbilden, sondern die Vielfalt der Schöpfung soll sich in martialischer Weise der Sprache unterwerfen.
Gott sei Dank gibt es mitterlweile auch in Deutschland erste zaghafte Maßnahmen, diese unmenschlichen Praxen zu beenden. So dürfen Eltern, deren Neugeborene weder als männlich, noch als weiblich identifiziert werden, heute das Geschlecht in der Geburtsurkunde offen lassen (§ 22 Abs. 3 Personenstandsgesetz). Diese Leerstelle kann bei weitem nicht der letzte, aber doch ein wichtiger Schritt zur gesellschaftlichen Anerkennung geschlechtlicher Vielfalt sein. Die Leerstelle ist das offizielle Eingeständnis, dass unsere Sprache hier ein Defizit aufweist, und dass es eine Illusion ist, Geschlechtlichkeit beschränke sich auf nur zwei Varianten.
Die Anerkennung geschlechtlicher Vielfalt wirft verständlicher Weise viele Fragen auf. Etwa nach den möglichen Konsequenzen für sprachliches Handeln. Oft wird dann die Polemik bemüht, ob jetzt beispielweise in einer Anredeformel neben Damen und Herren auch noch dutzende anderer Geschlechter genannt werden sollen. Der Gender-Star (Beispiel: Christ*innen) oder der Gender-Gap (Beispiel: Christ_innen) sind Versuche von Antworten. Sie zeigen an: "Ja, wir wissen, es gibt noch mehr geschlechtliche Identitäten als unsere Sprache sie aktuell symbolisieren kann." Dafür steht der Stern oder die Lücke. Diese Ideen sind alles andere als unumstritten. Sowohl bei denen, die die allgemeine Gültigkeit der Menschenrechte davon abhängig machen, welches Geschlecht eine Person hat, als auch bei denen, die sich nicht als Männer oder Frauen definieren. Ich begreife den Gender-Star und den Gender-Gap als einen Anfang, ein Aufbrechen überkommener, diskriminierender und gewaltvoller Sprechakte. In meinem kommenden Blogeintrag - der am 11. Dezember erscheint -, befasse ich mich näher mit den Möglichkeiten und den Widerständen bezüglich einer geschlechtergerechteren Sprache.
Lesetipp:
Voß, Heinz-Jürgen. (2010). Making sex revisited: Dekonstruktion des Geschlechts aus biologisch-medizinischer Perspektive. Bielefeld: transcript.