"Ich bin Schwul." Als ich diesen Satz zum ersten Mal sagte, fühlte sich das gut an. Es hatte etwas Befreiendes. Ich konnte mich dadurch zu erkennen geben. Die Menschen, denen ich das anvertraute, die wussten künftig, warum ich mich für kein Mädchen aus der Klasse interessierte, weshalb ich bei Äußerungen zur Sexualität im Gegensatz zu anderen eher zurückhaltend war und dass ich mir einen Freund wünschte. Damals - ich war zwischen 13 und 14 - begann ich dann auch, nach allem was schwul oder homosexuell war zu forschen: Bilder, Bücher, Berichte. Ich kann mich noch gut erinnern, wie ich immer, wenn die neue Programmzeitung heraus kam mit klopfendem Herzen vor dem Heft saß und akribisch studierte, ob dort ein Film, eine Serie oder eine Diskussion angekündigt wurde, wo gleichgeschlechtliche Liebe Gegenstand war. Ich weiß auch noch, wie sehr ich mir wünschte, endlich mal einen anderen schwulen Mann zu treffen. Diese Zeit war aufregend, immer geprägt von Hoffnungen und natürlich auch Enttäuschungen. Weil ich meine homosexuelle Gabe aber von Beginn an als Geschenk Gottes annehmen konnte, kam ich als Jugendlicher recht bald zu dem Schluss, dass ich gern schwul bin.
All das ist nun fast zwanzig Jahre her. Heute stelle ich mir immer öfter die Frage: Bin ich schwul? Möchte ich mich so bezeichnen? Und wenn ja, bin ich dann auch gern schwul? Keine Frage, ich finde Männer attraktiv und möchte weiter mit meinem Partner zusammen sein. Darum geht es nicht. Mein Punkt sind die Begriffe schwul und homosexuell. Treffen die auf mich zu? Schwul, ist dieses Wort nun eine identitätsstiftende Selbstbezeichnung oder eher eine gewaltvolle Fremdzuschreibung?
Begehren zwischen sich gleichenden Geschlechtern gab es natürlich schon immer und überall. Aber diese Aufteilung von Menschen in Hetero- und Homosexuelle, die ist, wie Foucault in seinem Buch Der Wille zum Wissen aufzeigt, ein Phänomen, das dem 19. Jahrhundert entstammt. Bis zu dieser Zeit wurde Geschlechtsverkehr zwischen Männern als ein Verbrechen bestraft. Dann setzte eine veränderte Sicht ein. Gleichgeschlechtliches Begehren war nicht länger einfach nur eine strafbare Handlung. Wer auf diese Weise Sexualität lebte, war von nun an eine eigene Spezies. Die Psychiatrie rief den Homosexuellen ins Leben. Ein pathologisches Subjekt, dessen gesamtes Wesen, in seinem ganzen Fühlen, Denken und Handeln von seinem abweichenden Begehren durchdrungen war. Im Laufe der Jahrzehnte erlebte dieses sonderliche Subjekt viele Metamorphosen. Zu Beginn des letzten Jahrhunderts war der Schwule ein weiblicher Mann, weil er sich vermeintlich zu feminin verhielt. Der Schwule der 1960er und 1970er war dann von einer Art Gegenbewegung geprägt: Leder, Bärte und ein betont maskulines Auftreten. Aktuell mutiert der Schwule zu einer Art Prototyp des kapitalistischen Idealmenschen. Er ist gepflegt, gesund, konsumorientiert. Verantwortungsbewusst lebt er seine Sexualität und fällt durch eine hohe Leistungsbereitschaft im Beruf auf.
Wenn ich mir diese Metamorphosen anschaue, komme ich zu dem Schluss: Das bin ich nicht! Keines dieser Bilder passt zu mir. Und was viel wichtiger ist: Ich finde es auch nicht erstrebenswert, dass eines dieser Bilder zu mir passt. Wenn eine Person meint, sie wüsste etwas über mich, nur weil sie einen Teil meiner Sexualität kennt, dann ist das eine Anmaßung. Ich möchte aufgrund meines Begehrens keine Identität zugeschrieben bekommen. Ich denke, handle und fühle als Mensch, als Kind Gottes, als Sohn meines himmlischen Vaters und nicht als Schwuler oder Homosexueller!
Sollte ich deshalb nun sagen: "Nein, ich bin nicht schwul!"? Die konsequente Antwort würde ja lauten. Aber es gibt hier eine unauflösliche Ambivalenz, auf die der Soziologe und Sozialphilosoph Bourdieu hinweist. Er sagt in dem Buch Die männliche Herrschaft sinngemäß, dass die Homosexuellen sich in den Kategorien vereinigen müssen, die sie abzuschaffen versuchen. In diesem Satz steckt die Aussage, dass die Kategorisierung über die Sexualität den Homosexuellen nicht ausschließlich Nachteile bringt. Das kann ich für mein Leben nur bestätigen. Wie hätte ich ohne das Wort schwul jemals andere Menschen kennen lernen sollen, die ähnlich fühlen und deshalb auch dieselben Diskriminierungen erleben, wenn ich nicht mal einen Begriff für das gehabt hätte, was ich mit ihnen teile? Auch schwule Menschenrechtsbewegungen wären wohl ohne einen Begriff wie Homosexualität niemals entstanden.
Das Subjekt des Schwulen ist eine zweischneidige Sache, es kann zum Fluch und zum Segen werden. Ich meine, die Bezeichnungen schwul und homosexuell sind weiter notwendig, sie sollten jedoch unbedingt reflektiert verwandt werden. Die Gefahr ihres unreflektierten Gebrauchs sehe ich darin, dass die Worte, wie so viele andere Begriffe auch, die Kinder Gottes trennen. Ein Beispiel dafür ist etwa der Umgang mit transgeschlechtlichen Menschen in schwulen Bewegungskontexten. Da gibt es Personen, die sagen: "Ich bin schwul, was habe ich mit transgeschlechtlichen Menschen zu tun? Das ist doch etwas völlig anderes. Sollen die sich doch bitte für ihre eigenen Rechte einsetzen und dabei möglichst nicht noch uns Schwule durch ihr nicht geschlechtskonformes Auftreten als unseriös erscheinen lassen." Einen schwulen Mann und eine transgeschlechtliche Frau beschäftigen sicherlich viele unterschiedliche Probleme, sozial, rechtlich, medizinisch, was Diskriminierungserfahrungen angeht, etc… Auf einer höheren analytischen Ebene betrachtet sind aber beide, der schwule Mann und die transgeschlechtliche Frau, von derselben Ausgrenzung betroffen. Beide erleiden physische, psychische, strukturelle und symbolische Gewalt, weil sie nicht dem bürgerlichen und unchristlichen Ideal der heteronormativen Ideologie entsprechen. Deshalb ist es geboten, sich nicht über Begriffe zu entzweien, sondern Seite an Seite zu kämpfen und wahrzunehmen, das nicht meine Geschwister in Christus die Bedrohung sind, auch wenn sie einen anderen Namen tragen als ich, sondern dass uns das bedrohen will, was versucht, die zerstörerischen Grenzen zwischen den Kindern Gottes aufrechtzuerhalten.
Die transgeschlechtliche Frau, der schwule Mann und viele andere sollten langfristig für eine Gesellschaft eintreten, die Kategorisierungsakte qua Sexualität nicht mehr akzeptiert. Das Begehren darf nicht länger darüber entscheiden, was für eine Persönlichkeit jemand ist und was jemand nicht sein darf. Der Weg, dieses Ziel zu erreichen, ist ein Schritt, das Reich Jesu Christi zu bauen, damit ein Stück Himmel hier auf Erden schon real werden kann, so wie Paulus es mit den Worten ankündigt:
"Da ist weder Jude noch Grieche, da ist weder Sklave noch Freier, da ist nicht Mann und Frau. Denn ihr seid alle eins in Christus Jesus" (Galater 3,28).