An die Bilder Tausender Flüchtlinge, die tagtäglich nach Deutschland kommen, haben sich viele bereits gewöhnt. Eine andere Erkenntnis macht sich hingegen erst langsam breit: Wenn diese Menschen langfristig in der Bundesrepublik bleiben, dann wird sich unsere Gesellschaft verändern. Denn unser Zusammenleben ist nichts Statisches, es befindet sich in ständigem Wandel. Das Meiste von dem, was wir heute als alltäglich erleben, die Normen und Werte, die uns so selbstverständlich erscheinen, sind nichts Natürliches, sondern das Produkt von Aushandlungsprozessen. Insofern ist Gesellschaft immer etwas Dynamisches, ihre gegenwärtige sowie zukünftige Konstitution hängt davon ab, was ihre Mitglieder formell und noch viel öfter informell vereinbaren.
Vor diesem Hintergrund bewegt aktuell viele Menschen die Frage: Was werden diejenigen, die aus anderen Gesellschaften zu uns gelangen, in diesen stetigen Aushandlungsprozess darüber, wie sich unser Zusammenleben gestalten soll, einbringen? Und neben einer gespannten Freude darauf, ist diese Frage bei mir auch mit Ängsten verbunden. Ängste, die entstehen, wenn ich etwa von anti-homosexuellen oder anti-transsexuellen Übergriffen in Flüchtlingsheimen lese. Ängste, die noch verstärkt werden, wenn mir ein Bekannter erzählt, er könne die Schwulenfeindlichkeit unter den Asylsuchenden, mit denen er ansonsten leidenschaftlich gern arbeite, kaum noch ertragen. Ich scheine nicht der Einzige zu sein, der hierüber beunruhigt ist. Konservative Politiker_innen wie Julia Klöckner und Jens Spahn stoßen gerade eine öffentliche Debatte darüber an, dass Flüchtlinge die Rechte von Frauen und Homosexuellen wahren müssen. Und darin haben sie natürlich ohne jeden Abstrich Recht!
Aber gilt diese Wahrheit nur für Flüchtlinge? Die beiden CDU Politiker_innen erwecken fast den Anschein, als ob die Hierherkommenden ein Land aufsuchten, das bereits den vollkommenen Zustand der Gleichberechtigung aller Geschlechter und sexueller Begehrensweisen erreicht hat oder zumindest kurz davor ist. Doch damit verklären sie die Realität. Frauen, schwule Männer und transgeschlechtliche Menschen werden auch heute noch jeden Tag Opfer physischer, psychischer, struktureller und symbolischer Gewalt. Und die geht nicht primär von Menschen mit Migrationshintergrund aus. Daran dass dieser Zustand anhält, tragen Frau Klöckner, Herr Spahn und ihre Partei eine große Mitschuld.
Ich frage mich, wie Herr Spahn einem anti-homosexuell eingestellten Flüchtling zwei Dinge erklären will: Einerseits, dass es in Deutschland ein unveräußerliches Grundrecht ist, dass ein homosexuelles Paar Hand in Hand über die Straße gehen darf, ohne dass es dabei Angst vor einem Übergriff haben muss, weil eben ihre Liebe nicht weniger wert ist, als die Liebe zwischen Mann und Frau. Anderseits warum er als Bundestagsabgeordneter mit seiner Stimme dafür sorgt, dass ihnen das Ehe- und Elternrecht verwehrt wird. Das ist höchst bigott. Es erinnert an Matthäus 7 Vers 3: „Was siehst du aber den Splitter in deines Bruders Auge und nimmst nicht wahr den Balken in deinem Auge?“ Im dem Aushandlungsprozess darüber, wie wir in Deutschland mit sexueller und geschlechtlicher Vielfalt umgehen, kann es nicht sein, dass nur Asylsuchende dazu aufgerufen werden, ihre Einstellung zu verändern. Alle Gesellschaftsmitglieder tragen Verantwortung dafür, echte Gleichberechtigung zu schaffen. Und dieser Verantwortung kommt die CDU nicht nach. Spahn pocht darauf, dass sich Menschen mit Migrationshintergrund zum Grundgesetz bekennen müssen. Das ist richtig. Gleichzeitig blockiert die Union aber seit Jahren als einzige Partei, dass Menschen vor Benachteiligungen aufgrund ihrer sexuellen Identität durch das Grundgesetz geschützt werden. Bundesbildungsministerin Johanna Wanka machte jüngst deutlich, dass Bildung der Schlüssel zur Integration ist. Gleichzeitig bereitet ihre Partei in Baden-Württemberg einen Landtagswahlkampf vor, der hetzerisch dagegen mobilisiert, dass Schüler_innen in den allgemeinbildenden Schulen unterschiedliche Geschlechter und Sexualitäten zu akzeptieren lernen.
Diese Politik ist höchst widersprüchlich. Dahinter steht, dass die CDU sich nicht wirklich für die Rechte von Frauen, schwulen Männer und transgeschlechtlichen Menschen interessiert, sondern dieses Thema gerade nur für sich entdeckt, um mit einer möglichst weißen Weste auf dem Ticket des Kampfes für die Menschenrechte Stimmung gegen Flüchtlinge zu machen und das ist mit Verlaub unredlich! Wenn Spahn, Klöckner, Wanka und andere wirklich ein besseres Zusammenleben gestalten wollen, dann könnten sie das beweisen, durch entschiedenere Taten und deutlichere Worte für die Gleichberechtigung aller Geschlechter und Sexualitäten. Und das nicht nur polarisierend in Richtung Asylsuchende, sondern auch an die Gesamtgesellschaft gerichtet, zu allererst an ihre eigene Partei.