Wie sollte sich die Leitung einer evangelischen Landeskirche verhalten, wenn an sie einerseits vehemente Forderungen nach der Gleichberechtigung homosexuell liebender Menschen gerichtet werden, anderseits nicht weniger vehemente Forderungen danach, die bisherige Ungleichbehandlung aufrechtzuerhalten? Das Mitglied des Oberkirchenrats der württembergischen Landeskirche Werner Baur erklärte dazu während einer Podiumsdiskussion auf dem gerade zurückliegenden Kirchentag, seine Landeskirche sei mit beiden Gruppen, denen für und denen gegen eine Gleichberechtigung im Gespräch, beide würden gleichermaßen geschätzt und es werde versucht, Lösungen zu finden, die alle Seiten zufrieden stellen. Das sei notwendig, um die Einheit der Kirche nicht zu gefährden. In ähnlicher Weise argumentieren auch leitende Personen anderer evangelischer Landeskirchen. Doch ist ein solches Handeln im Geiste des Evangeliums?
In vielen mir bekannten Diskussionen verweisen landeskirchliche Leitungen bezüglich der Gleichberechtigung homosexuell liebender Menschen auf den ersten Korintherbrief. Im achten Kapitel fordert der Apostel Paulus seine Geschwister dazu auf, auf das Essen von Götzenopferfleisch im Zweifelsfall zu verzichten. Es geht dabei um Fleisch, das den Göttern zu Ehren kultisch geschlachtet wurde. Da es diese Götter nach christlichem Glauben gar nicht gibt, ist das kultische Opfer sozusagen wirkungslos und das Essen dieses Fleischs unbedenklich. Aber um andere in ihrem Glauben nicht zu verunsichern soll man der Liebe willen Rücksicht nehmen und darauf verzichten. Oberkirchenrät_innen und andere Verantwortungsträger_innen legitimieren mit dieser Bibelstelle häufig ihre Entscheidung, Lesben und Schwulen nicht dieselben Rechte wie den heterosexuellen Paaren und Familien zuzugestehen, denn das würde die Gegner_innen dieses Vorhabens im Glauben anfechten und könnte diese dazu bringen, die Landeskirche zu verlassen. Hier ist jedoch einzuwenden, dass eine Übertragung des Essens von Götzenopferfleisch auf die Gleichberechtigung homosexuell Liebender nicht möglich ist. In dem ersten Fall geht es um eine reine und nicht wirklich essentielle Handlung. Auf das Essen eines auf kultische Weise geschlachteten Fleisches soll nach Paulus verzichtet werden. Für die dazu Aufgeforderten ist das kein wirklich großer Verlust. Sie können anderes Fleisch essen. Das, was sie aufgeben steht in keinem Verhältnis zu dem, was sie durch ihr Verhalten bei denen, die sich daran stören, anrichten. In dem zweiten Fall ist die Ausgangslage aber eine völlig andere. Liebe ist nicht einfach eine Handlung und Liebe ist hochgradig essentiell für unser menschliches Dasein. Gott hat Liebe und Sexualität, egal ob hetero- oder homosexuell, tief in die Herzen seiner Geschöpfe gelegt. Es sind seine Gaben, die nach Verwirklichung streben, in Form von Trauungen, von Zusammenleben, auch im Pfarrhaus und Familiengründungen. Für diese Gaben wünschen sich Menschen den Segen und den Schutz der Kirche. Dafür kann es keinen Ersatz geben. Und eine Landeskirche, die dies nicht vollkommen anerkennt, läuft deshalb Gefahr, den Glauben homosexuell liebender Menschen und ihrer Unterstützer_innen anzufechten.
Das bedeutet, es kann nicht im Geiste des Evangeliums sein, Lesben und Schwule dazu anzuhalten, auf einen Teil ihrer Rechte zu verzichten. Auch nicht dann, wenn sich andere hierdurch im Glauben angefochten fühlen. Die Leitungen der evangelischen Landeskirchen stehen somit vor der Situation, dass Glaube und Kirchenzugehörigkeit beider Seiten gefährdet sind. An dieser Stelle werden die geistlichen Verantwortungsträger_innen nicht darum herumkommen, klare, eindeutige und wahrhaftige Entscheidungen zu treffen. Leitend dabei muss die Frage sein, wer den Schutz der Kirche dringender benötigt. Ist es wichtiger, einer auf Treue, Partnerschaftlichkeit und gegenseitiger Verantwortung angelegten homosexuellen Beziehung den Segen während einer Trauung zuzusprechen oder ist es wichtiger, diejenigen, die deshalb ein unbehagliches Gefühl haben zu schützen? Ist es wichtiger, Regenbogenfamilien einen gleichberechtigten Schutz zu gewähren oder soll das Wohlbefinden derer geschützt werden, die der Regenbogenfamilie absprechen, überhaupt eine Familie zu sein? Wie aber kann sich eine Kirche, die Jesus Christus nachfolgt, hier anders entscheiden als Partei für diejenigen zu ergreifen, deren Liebe, deren Beziehungen und Familien diskriminiert, marginalisiert und von symbolischer Gewalt bedroht werden? Christus hat sich nie auf die Seite derer geschlagen, die ausgrenzen, andere entrechten und verurteilen. Seine Kirche muss es ihm nachtun! Andernfalls ist sie nicht seine Kirche.
Die Konsequenz, die sich daraus für die Leitungen vieler evangelischer Landeskirchen ergibt, ist ein bitterer Abschied. Abschied von der Illusion, dass eine (fast) vollkommene Inklusion aller Meinungen und Forderungen zum Thema Homosexualität unter dem Dach der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) möglich ist. Ähnliche Prozesse hat die EKD schon hinter sich, beispielsweise in der Frage eines biblisch begründeten Rassismus oder Antisemitismus, aber auch des Sexismus. Hier wurden in der Vergangenheit klare Grenzen gesetzt, die deutlich machen: Diese gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeiten haben keinen Platz in der Kirche Jesus Christi. Und wer trotzdem daran festhalten will, wird nicht vom Leib Christi ausgeschlossen, nein, aber sie oder er bekommt doch deutlich gemacht, dass diese Extremismen nicht mit dem protestantischen Bekenntnis vereinbar sind und daher auch im kirchlichen Handeln keine Berücksichtigung finden können, sollen und dürfen. Das aber steht für die Homophobie – die dort beginnt, wo Menschen in welcher Form auch immer benachteiligt werden, weil sie statt eines Menschen verschiedenen, einen Menschen gleichen Geschlechts lieben – schändlicher Weise noch aus.
Quantitativ gesehen kann ein solch zwingend gebotenes Bekenntnis zur Gleichberechtigung homosexuell liebender Menschen, die äußere Einheit der Kirche möglicherweise kurzfristig gefährden. Doch die Frage der kirchlichen Einheit auf die Anzahl ihrer Mitglieder zu reduzieren, wird der protestantischen Kirche nicht gerecht. Die Einheit der Kirche gründet nämlich nicht auf einem quantitativen, sondern auf einem qualitativen Kriterium, dem qualitativsten überhaupt, dem Kriterium, dem sich alle andere unterwerfen müssen: Jesus Christus. Er und das Evangelium von ihm können doch überhaupt erst den Sinn der Einheit der Kirche stiften. Gerät das aus dem Blick, wird aus der Einheit der Kirche, auch wenn sie noch so gebetsmühlenartig beschworen werden mag, eine substanzlose Beliebigkeit, ein sündhafter Selbstzweck, der letztlich auch von einer Gleichgültigkeit gegenüber allen Geschwistern zeugt, weil er ihnen eine ernsthafte Auseinandersetzung verweigert.
Als Petrus zuerst mit den Heidenchrist_innen Tischgemeinschaft pflegte, sich dann aber von ihnen aus Angst vor der Reaktion der geborenen Jüdinnen und Juden abwandte, ließ Paulus, selbst Jude, es nicht an Entschlossenheit mangeln. Damals, so bezeugt es uns der Apostel, ergriff Paulus eindeutig Partei für seine so diskriminierten Geschwister. Er war sich bewusst, hier tut sein Bruder unrecht und so „widerstand“ er „ihm ins Angesicht“ (Galater 2,11). Ich wünsche den Verantwortlichen in den evangelischen Landeskirchen den Mut des Paulus.