Liebe Lesenden,
zwei Tage später als sonst blogge ich heute direkt vom 35. Deutschen Evangelischen Kirchentag. Dieser findet gerade (3.-7. Juni) in Stuttgart statt.
Den Donnerstag verbrachte ich fast komplett im Zentrum Regenbogen, dessen Sitz im Stadtteil Wangen m. E. etwas „abseits“ und viel zu klein war. Letzteres Manko ist allerdings wohl vor allem dem Umstand geschuldet, dass eine überwältigende Teilnehmer_innenzahl Interesse an queeren Veranstaltungen hatte. Die Sitzplätze im Café Regenbogen waren genauso heiß begehrt wie die Sitzplätze in den Sälen. Es gab aber diesmal auch eine Veranstaltung zum Wandern. Dieses Angebot bleibt mir von allen besuchten Veranstaltungen besonders in Erinnerung. Daher möchte ich mich bei meinem heutigen Blogbeitrag ganz darauf besinnen und euch ein wenig teilhaben lassen an meinem ersten offiziellen queeren Pilgerweg. (Über weitere Inputs des Kirchentages werde ich in meinen folgenden Blogbeiträgen an passender Stelle berichten.)
"Stationen des Kreuzes und der Hoffnung. LSBTTIQ-Erfahrungen auf dem Weg"
In der alten Tradition des Kreuzweges machen sich Menschen auf, um Stationen des Leidensweges Jesu zu meditieren und auf ihr eigenes Leben hin zu reflektieren, und zwar mit Leib, Seele und Verstand. Dieser ganz besondere Kreuzweg nahm wütend und versöhnlich zugleich, in jedem Fall liebevoll gestaltet, Bezug auf queere Lebensrealitäten.
Das „Mittagsgebet in Form einer Kreuzwegsandacht“ begann um ein Uhr mittags am Zentrum Regenbogen mit der ersten Station, dem Einzug Jesu in Jerusalem (Mt 21,1-9). Hier - wie auch bei jeder weiteren der sieben Stationen - wurde erst der Bibeltext verlesen und anschließend die Auslegung aus dem Begleitheft, welches Dr. Axel Schwaigert (MCC Stuttgart) sowie Dr. Franz Kaern-Biederstedt (HuK e.V.) konzipiert haben. (Alle Zitate daraus sind mit An- und Ausführungszeichen gekennzeichnet.) Nach den Auslegungstexten wurden jeweils Gebete gesprochen oder Lieder gesungen. Zwischen den Stationen, während des Gehens waren wir still oder summten leise Melodien.
Die erste Station machte auf das „Zeichen der Demut“ aufmerksam, die „Eselin“, auf deren Rücken Jesus nach Jerusalem geritten kam. Kein stolzes Pferd, keine majestätische Truppe, die er anführte. Dieses Symbol soll den Beginn des Weges untermalen, der hier, zum Beispiel in Deutschland, schon begangen ist, ein Weg voller Fort-Schritte hin zur Gleichberechtigung von LGBTs. Zu der Freude darüber geselle sich aber auch die Solidarität mit und das Schauen auf Menschen in Ländern, wo es noch immer gefährlich ist, offen schwul, lesbisch, bi* oder trans* zu sein.
Beim zweiten Halt betrachteten wir vor der Schriftlesung von Mt 26,20-29 ein Bild von der Künstlerin Elisabeth Ohlson Wallin, welches Da Vincis ‚Letztes Abendmahl‘ mit lauter Trans*menschen in schrillen Outfits zeigt. Wir hörten die Auslegung dazu, betitelt mit „Erfahrung von Gemeinschaft“. Jesus lud alle ein, beim Mahl dabei zu sein, auch diejenigen, die an den Rand der Gesellschaft gedrängt sind. Für „LSBTIQ Menschen“ hätten Feste eine besondere Bedeutung bekommen, als „Feste des Lebens, der Kreativität des Bunt-Seins, der Hoffnung“, die „Sicherheit, Solidarität und Gemeinschaft“ erfahren lassen.
Die dritte Station ließ uns über Einsamkeit und Verrat nachdenken mit dem Bibeltext von Jesu Gefangennahme in Mt 26,36-50 und führte weiter zur vierten Station an einem kleinen Brunnen, mitten zwischen Wohnhäusern gelegen (siehe Bild). Hier ging es um die Verurteilung Jesu (Mt 27,23-26), in deren Auslegung Ablehnung und Vorurteile gegenüber LSBTIQ thematisiert wurden. Diese Station beschlossen wir mit einem kraftgebenden Gebet:
„Du göttliche Kraft,
öffne die Augen und Herzen all derer,
die allem, was ihnen fremd ist, mit Unverständnis und Hass begegnen.
Lass sie das Fremde verstehen wollen,
damit der Hass sich in Freude über die Vielfalt Deiner Schöpfung, in Liebe wandelt.
Freude und Liebe sind so viel schöner, erfüllender und fruchtbarer als Hass,
der alles Leben in uns und um uns herum zerstört.
Gott, Du willst das Leben, willst die Fülle.
Schenke uns das Bewusstsein dafür.
Nimm die unbegründete Angst davor hinweg.
Lass uns immer und immer mehr das suchen, was uns verbindet,
anstatt das, was uns trennt.
Von uns… von Dir…
Amen.“
Die fünfte Station wurde anstatt mit einem Bibeltext mit der Geschichte der Veronika und des Schweißtuches begangen. Sie hatte, laut der Legende, Jesus berührt und ihm das Gesicht getrocknet, als ihn niemand mehr berühren wollte. Hier gedachten wir der Solidarität, die beispielsweise Menschen mit HIV/AIDS und ihre Angehörigen erfuhren, als sie von den Übrigen nur mit spitzen Fingern angefasst wurden. Auch das Ja der Bürger_innen von Irland zur Homo-Ehe klang als Akt der Solidarität und Offenheit an.
Kurz vor der Kirche im „Hängenden Garten“ vor dem Eingang zum Friedhof blieb die kleine Gruppe stehen, um Jesu Kreuzigung und Tod (Mk 15,22-37) zu gedenken. „Wer will hören vom Tod am Kreuz, vom Tod auf den Straßen, von Gewalt und Hass?“ Wollen wir das Leid wirklich sehen, das Schwulen, Lesben,Trans*- und Inter*-Menschen angetan wird? Wir müssen hinschauen, „müssen es hinausschreien, müssen es beklagen“ – die Verspottung, die Gewalt, die Vergewaltigungen, die Morde. Darum, so die Lesung, sei es auch wichtig, in den Gemeinden, in der Kirche den Finger in die Wunde zu legen.
Und dann traten wir nach unserem kurzen, aber beeindruckenden Pilgerweg in die Michaelskirche ein, eine steinerne Kirche mit romanischem Einschlag, wenngleich schlicht. Die letzte Station widmete sich der Auferstehung mit dem Bibeltext aus Lk 24,1-8., „was suchet ihr den Lebendigen bei den Toten?“. Der Tod und der Schmerz sind für Jesus nur eine Übergangsstation. „Jesu Leidensgeschichte ist nur ein kleiner Ausschnitt aus einer viel größeren Geschichte (…).“ Jesu Botschaft von Leben „lässt die Vision einer Freiheit und Weite entstehen (…), die Vision von Liebe, Akzeptanz und Vielfalt.“
Nach zwei erbaulichen Abschlussliedern bekamen wir einen ungewöhnlichen und ermutigenden Segen mit auf den Weg: Mögen wir verärgert sein über Ungerechtigkeit und Unterdrückung und mit Torheit gesegnet, zu glauben, dass wir die Welt verändern können, damit wir tun können, „was andere für unmöglich halten“.
Ich bedanke mich bei den Organisator_innen und Wanderbegleitern für diesen beeindruckenden kleinen Kreuzweg.