Warum empfinden viele Lesben und Schwule, die ihrer sexuellen Identität positiv gegenüberstehen, trotzdem tief sitzende Scham- und Schuldgefühle, von denen sie sich nicht frei machen können? Sie mögen sich vielleicht um selbstbewusstes Auftreten bemühen, aber wenn sie zum Beispiel dem Partner beim Kirchenkaffee einen Kuss geben oder in der Mittagspause vom gemeinsamen Wochenende berichten, beschleicht sie dennoch dieses Gefühl der Unsicherheit. Diesem Thema bin ich in meinen letzten Blogbeitrag mit dem Titel Tiefer als gedacht nachgegangen. Dabei habe ich Pierre Bourdieus Konzept des Habitus und der symbolischen Gewalt erläutert. Am Ende meiner Ausführungen blieben die Fragen offen, ob homosexuell liebende Menschen ihren habituellen Dispositionen hilflos ausgeliefert sind und es für sie keinerlei Möglichkeiten gibt, sich der symbolischen Gewalt zu entziehen oder gar Widerstand dagegen zu leisten. Diesem Punkt widmet sich nun der vorliegende Beitrag.
Matthäus 13 erzählt uns von dem Gleichnis Jesu über das Unkraut im Weizen: Ein Bauer sät gute Saat auf sein Feld, doch des Nachts kommt sein Feind und schmeißt zwischen die gute Saat Samen von Unkraut. Als dann das Unkraut zwischen dem Weizen zu wachsen beginnt, fragen die Knechte den Bauern, ob sie den Wildwuchs ausreißen sollen. Der Bauer gebietet ihnen Einhalt und mahnt, bis zur Ernte zu warten, da sich Unkraut und Weizen nur schwer unterscheiden lassen und mensch deshalb Gefahr liefe, neben dem Unkraut auch den guten Weizen auszureißen. Erst bei der Ernte wird mit Sicherheit feststellbar sein, was Weizen und was Unkraut ist. Dann soll beides getrennt, das Unkraut verbrannt und der Weizen in der Scheune gelagert werden.
Auch unser Körper gleicht einem Acker. Am Lebensbeginn ist er noch unbestellt. Es gibt noch fast keine Festlegungen für unseren Habitus, also dafür, wie wir gewohnheitsmäßig fühlen, denken und handeln. Gleichwohl sind diese Anlagen für die menschliche Entwicklung unverzichtbar. Müssten wir bei jeder Begegnung, bei jeder Situation immer erst einmal grundsätzlich klären, was wir empfinden, wie wir die Dinge bewerten oder uns verhalten, kämen wir in der Entwicklung unserer Persönlichkeit, sowie der generellen Fähigkeit, das Leben zu gestalten, nie über den Status eines Neugebornen hinaus. Deshalb sät Gott von Anfang an guten Samen auf den Acker unseres Körpers. Das tut er insbesondere dadurch, dass er uns prägende Erfahrungen mit anderen Menschen schenkt. Durch das, was wir mit den Personen unserer Umwelt erleben, was wir von ihnen hören, im Zusammensein mit ihnen fühlen, wird die Saat gelegt, gepflegt und kann schließlich aufgehen, damit aus ihr unser Habitus erwächst. Doch leider säht nicht nur Gott, sondern auch der Fürst dieser Welt seinen Samen auf unserem Körperacker aus. Deshalb hat jeder Mensch Dispositionen seines Habitus, die ihm gut tun, die nützlich und segensreich sind, aber ebenfalls solche, die schmerzvoll, sündhaft sind und für symbolische Gewalt, also zum Beispiel für Herabwürdigungen, empfänglich machen.
Wenn wir über Möglichkeiten des Widerstandes gegen symbolische Gewalt sprechen, ist es deshalb zunächst wichtig, den Ort in den Fokus zu nehmen, an dem der Habitus entsteht. Nie wieder ist der Boden unseres Körpers so fruchtbar wie am Lebensbeginn. Der Samen, der dort gesät wird, bestimmt für den Rest der irdischen Existenz, was in uns leicht gedeihen kann und was es schwer haben wird. Eindrucksvoll zeigt das eine Studie von Garfinkel, der Transsexuelle nach ihrer geschlechtsangleichenden Operation beobachtet hat. Diese Menschen haben lange sehr hart dafür trainiert, Stimme, Gestik, Mimik, Auftreten etc. so anzupassen, dass sie von der Außenwelt als das Geschlecht gelesen werden, deren Physiologie sie nun entsprechen. Auch wenn die Arbeit Früchte trug, bleiben immer Unterschiede zu denen, die bereits als Kinder in dem von den Transsexuellen angestrebten Geschlecht sozialisiert wurden. Aus dieser und anderen Untersuchungen können wir die Erkenntnis ziehen, dass der geschlechtliche Habitus in der Kindheit festgelegt wird und danach kaum noch veränderbar ist.
Gerade darum braucht es dringend fundamentale Reformen im Erziehungs- und Schulsystem, wie sie, dem Herrn sei dank, bereits in vielen Bundesländern auf den Weg gebracht wurden. Kinder müssen von Anfang an erleben dürfen, dass es keine Wertigkeiten zwischen den sexuellen und geschlechtlichen Identitäten gibt. Das kann beispielweise passieren, wenn das eine Kinderbuch von Cem und dessen Müttern, das andere über Lena und deren Vater und Mutter erzählt, oder wenn in der Schule behandelt wird, dass ein Mädchen, das einen Penis hat, sich genau so gut und richtig in diesem Geschlecht zu hause fühlen kann, wie ein Mädchen, das eine Vagina hat, vielleicht auch, wenn im Musikunterricht analysiert wird, welche großartigen Werke Tschaikowsky aus (unerfüllter) Liebe zu den Männern und Mozart aus Liebe zu den Frauen schrieb. Zu allererst kommt es dabei aber natürlich auf die Einstellung der Personen an, die dies vermitteln. Kinder und Jugendliche sollen einen akzeptierenden Umgang ihrer Eltern, Lehrer_innen und anderer Bezugspersonen mit homo- und bisexuell liebenden oder transsexuell lebenden Menschen erleben können. Dann kann ein Habitus entstehen, der gegen die aktuellen symbolischen Gewaltverhältnisse bezüglich Geschlecht und Sexualität immun ist. Wer Homosexualität als nichts abweichendes, anderes, abstoßendes oder gefährliches kennen gelernt hat, dessen Habitus wird auch keines solcher Gefühle aufkommen lassen. Der Boden ist für die schlechte Saat unfruchtbar geworden. Das Wort „schwul“ wird dann als etwas neutrales und nicht als ein Schimpfwort empfunden und ein verächtlicher Blick, weil mensch mit einem Kleidungsstück durch die Stadt läuft, das für denjenigen, von dem der Blick ausgeht, vermeintlich nicht zum Geschlecht dessen passt, der angeblickt wird, läuft ins Leere, statt wie ein Faustschlag in den Magen zu sein.
Natürlich ist das Skizzierte sehr idealtypisch. Längst wollen noch nicht alle Menschen ihre Akte symbolischer Gewalt gegen Lesben, Schwule und Transsexuelle dort wo es ihnen möglich wäre einstellen, sondern diese, mit Blick auf die aktuellen Diskussionen zu schulischen Bildungsplänen, eher noch ausbauen. Zudem muss ein zweiter Faktor berücksichtigt werden: Wir, also diejenigen, die den kommenden Generationen diese neuen, nicht heteronormierten Dispositionen ermöglichen sollen, haben ja selbst andere Dispositionen in unseren Körpern verinnerlicht, nämlich solche, die Heterosexualität zur alleinigen Norm erheben. Das bedeutet, dass wir diese Dispositionen auch im Umgang mit Kindern und Jugendlichen nicht einfach abstellen können und sie daher auch wenn wir das nicht wollen, unbewusst weitergeben. Aus diesem Grund ist die Veränderung der kindlichen Sozialisation sicherlich ein Projekt, das über mehrere Generationen weitergeführt werden muss, so dass ganz langsam immer weniger Menschen mit heteronormierten Körpern heranwachsen.
Heißt das nun aber, dass es für zukünftige Generationen zwar eine Hoffnung, für uns allerdings, die wir bereits habituell disponiert sind, keine solche mehr gibt? In der Tat ist es so, dass bei dem erwachsenen Menschen die ihn bestimmende Saat bereits aufgegangen ist. Sie wird neuer Saat weniger Licht und Wasser zum Wachsen lassen. Es ist nicht möglich, ein paar positive Dispositionen neu zu erlernen und die alten einfach auszureißen. Was bereits auf dem Feld des Körperackers steht, muss auch dort bleiben, denn diese Vegetation macht unsere Geschichte, und damit unser Selbst aus. Und unser Selbst können, sollen, ja dürfen wir nicht verstümmeln.
Trotzdem kann uns das Wissen um die habituellen Dispositionen helfen. Wenn die Kollegin herein kommt und milde wegen des Bildes der gleichgeschlechtlichen Partnerin auf meinem Schreibtisch lächelt, dann kann ich den Affekt der Scham nicht loswerden, der Habitus behält den ersten emotionalen Zugriff. Aber ich kann zumindest besser einschätzen, warum ich mich jetzt in diesem Moment so fühle und dann der symbolischen Gewalt, auch wenn sie mich verletzt, die Stirn bieten, indem ich etwa sage: „Ja, das ist meine Partnerin. Sieht nett aus, was?“ Es ist in vielen Situationen durch strategisches Handeln möglich, zumindest Folgewirkungen symbolischer Gewalt, wie Ausweichen, Verstecken, Verleugnen und so weiter, zu vereiteln. In den letzten Jahren habe ich mehrere Workshops angeboten, während denen wir gemeinsam mittels theaterpädagogischer Methoden solche Optionen erprobt haben.
Eine andere Möglichkeit ist das Aufsuchen von sicheren Orten. Räumen, in denen wir wegen unserer sexuellen und geschlechtlichen Identität weniger symbolische Gewalt fürchten müssen. Beispiele hierfür sind etwa die Veranstaltungen des European Forum of Lesbian, Gay, Bisexual and Transgender Christian Groups, über das Kerstin Söderblom unlängst berichtete oder die Hauskreise der Organisation Zwischenraum. In diesem geschützten Rahmen können die Dispositionen, die uns gut tun, wachsen, gekräftigt und aufgerichtet werden, während das, was uns niederdrückt, gehemmt wird. Vielleicht führt das dauerhafte Aufsuchen solcher Stätten zwar nicht zu einem Verschwinden, aber zumindest einer gewissen Abschwächung der Unkräuter, die uns belasten. Viele sagen zumindest, dass sie während des Aufenthaltes dort ein befreites Gefühl erleben und einige stärkt das auch für die Welt außerhalb.
Letztlich müssen wir uns jedoch der Wahrheit stellen, dass das Feld unseres Körpers, unser Habitus, zeitlebens von Weizen und Unkraut bewachsen bleibt. Wahren Trost darüber können wir bei unserem Schöpfer finden, der am Ende aller Tage, wenn die Zeit der Ernte anbricht, das was uns jetzt quält von uns nehmen wird. Ich wünsche uns, dass die Hoffnung auf diese Ernte in unserem Leben immer wieder so sehr aufstrahlen darf, wie die hochsommerliche Sonne über einem Weizenfeld mitten im August. Auf dass wir echten Frieden in Jesus Christus schon jetzt hier auf dieser Erde finden.